Ich erinnere mich – von George B. Miller
… nicht oft (und schon gar nicht chronologisch), aber wenn, dann gern … an die Zeiten im Nebel auf der Leiter nach oben, die ich immer erst später richtig genießen konnte, wenn die Sicht klarer wurde.
Es ist die Nacht auf den 06. Dezember, Nikolaustag. Ich habe mit Seldom Sober das alljährliche „American Country Christmas“ im Metropol zelebriert. Das mühsame Zusammenpacken des Equipments, das Einladen, insgesamt 10 Stunden Non-Stopp-Aktion plus zwei Eggnogs, acht Brownies im Magen schlauchen erbärmlich. Frustrierende Leere in meinen frisch gewienerten, vor der Wohnungstür abgestellten Lederstiefeln. Hätte ich sie vielleicht doch besser mit dem Rest Latschenkiefer von innen einsprühen sollen? Zu spät für sinnlose Gedanken. Gegen 3.30 Uhr sinke ich todmüde ins ungeheizte Bett.
Immer noch des Sängers „Jingle Bells“ in den Ohren, „Frosty the Snowman“ an den Füßen und dennoch komatös träumend im gänzlich schneefreien „Winter Wonderland“ versunken, weckt mich jäh ein anhaltend rhythmisch donnerndes Geräusch. Dann ein ohrenbetäubendes Krachen und ehe ich überhaupt realisieren kann, dass die vielen bunten Lichter auf der Straße nicht von Santas Schlitten kommen, stehen drei gelbe Jacken mit Männern drin direkt an meinem Bett: „Sie müssen sofort aufstehen! Das Haus brennt. Ziehen Sie sich schnell etwas über. Lassen sie alles stehen und liegen!“ Das schnurpsende Klingeln der verrosteten Türschelle, das heftige Klopfen, die eindringlichen Rufe der Rettungsmänner, sorry, nicht gehört. Den höllischen Missklang brechenden Holzes, verursacht durch das erbarmungslose Eintreten der Tür schon. Ich wage nicht zu fragen, wo es brennt. Der Strom ist abgestellt und zusammen mit diesem bestialischen Gestank schieben sekundenlange Panikschübe mein Inneres bis ans Zäpfchen. Meine Socken finde ich im Dunkel natürlich nicht auf Anhieb. Siri hab ich nicht. Also barfuß in die voll versenkelten Schuhe. Jogginghose hoch, erstbeste Jacke übers T-Shirt, Handy vom Nachttisch in die Tasche und raus in die bittere Kälte.
Trotz nicht unerheblichen Wirrwarrs im Hirn schießt mir Karl Lagerfelds Spruch durch den Schädel, den ich bis zu diesem Augenblick immer genial fand: „Wer morgens in Jogginghose sein Haus verlässt, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren!“ Was weiß der schon. Andererseits, irgendwie passt er auch. Meine Vermieterin parliert mit Polizisten vorm Haus, meine Nachbarn zur Linken reden mit denen zur Rechten. Die Feuerwehrleute kommunizieren sachlich über Funk. Mit mir redet nur die Nacht. Das Ehepaar mit Tochter aus der Wohnung über mir denkt an die vielen Quecksilberkügelchen aus den alten geplatzten Sparbirnen, die jetzt überall im Gebäude ihren Weg in die kleinsten Ritzen suchen und womöglich schädlich für ihr Kind sein könnten. Auch wenn man weiß, dass Wasser und dieses „giftige Silber“ sich nicht verbinden, die Frage allein, ob auch immer alles stimmt was einem so erzählt wird, verursacht Kopfschmerz aus Angst.
Alle wandeln mitten auf der Straße in respektvollem Abstand zu fallenden Dachziegeln. Nur ich halte mich am Kiosk gegenüber meiner künstlich erleuchteten einstigen Residenz fest. Erst jetzt sehe ich es. Das Dachgeschoss, die Wohnung der jungen Frau mit ihren drei kleinen Kindern steht in Flammen. Sie selbst sind nirgends zu sehen. Mich fröstelt es. Es ist als würden die Wassermassen aus den Löschschläuchen auf meinem Rücken runter rinnen und sofort gefrieren. Hoffentlich treffen sie nicht auf meinen nagelneuen Fernseher. Schließlich bin ich gegen sowas nicht versichert. Zwischen fetten Rauschschwaden immer mal wieder das flackernde Licht des Feuers. Urplötzlich ein beeindruckendes Schauspiel der besonderen Art wie an Silvesters Mitternacht. Aus dem Qualm schießen heulende Raketen in alle Himmelsrichtungen. „Das sind Sprühdosen, Haarspray, Deos oder sonstiges Zeugs“, sagt Willy, der neben mir wohnt und seinen frisch gewachsten, erst kürzlich erstandenen Mustang vorsichtshalber außerhalb der Rußweite geparkt hat. „Die Frau ist mit ihren Kindern rechtzeitig raus, allerdings nirgends auffindbar“, flüstert seine Gattin. „Angeblich soll sie statt Notruf erst ihren Freund angeklingelt haben. Der kam nach etwa 10 Minuten, informierte cleverer Weise sofort die Feuerwehr und öffnete erst mal die Fenster, um den Rauch zu entsorgen.“
Na wunderbar. Ich bin obdachlos und fühle mich sofort an etwas erinnert, das noch nicht passiert ist. Etwas Warmes landet auf meiner Schulter. Es ist die Hand eines Polizisten. „Können wir Sie irgendwo unterbringen, hinfahren?“ Ich verneine, bedanke mich artig, ertaste mein Handy und rufe meinen Freund Manni Müller an. Da kann ich zu Fuß hin und mit Sicherheit erst einmal unterkommen. Wenn ich mir in diesen Tagen danach eine Zigarette anzünde, hab ich immer noch sofort den Geruch von versengten Nasenhaaren im Kopf.