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Die Lüge der digitalen Bildung – Warum die Digitalisierung Schülern schaden kann

Die Lüge der digitalen Bildung – Warum die Digitalisierung Schülern schaden kann
(Foto: Garfiken: GoodStudio / shutterstock.com)

„Digital first – Bedenken second“, so denglisch zog die FDP 2017 in den Bundestagswahlkampf. Bedenkenlos treiben Politik und Wirtschaft derzeit eine Entwicklung voran, deren schädliche Auswirkungen meist unterschätzt werden. »Digitalisierung« heißt das Zauberwort. Gerade im Bildungswesen wird mit Hilfe des Einsatzes von möglichst viel Elektronik ein neues Lernzeitalter heraufbeschworen.

Doch was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende, möchte man blinden Fortschrittsgläubigen entgegenrufen. Einen solchen Ruf haben jetzt die beiden Autoren Gerald Lembke und Ingo Leipner mit ihrem Buch »Die Lüge der digitalen Bildung« erhört und den Bedenken eine gewichtige Stimme gegeben. Die beiden sind keine Modernisierungsverweigerer, ganz im Gegenteil. Professor Lembke berät Unternehmen und Organisationen, wie sie Digitalisierung gewinnbringend einsetzen können. Diplom-Volkswirt Ingo Leipner ist Berater für Veröffentlichungen im Netz.

Eltern schulpflichtiger Kinder können die Vorboten der Digitalisierung aus eigener Anschauung erleben. Alles fing damit an, daß die Schulbücher im Laufe der Jahre immer schwerer wurden. Bereits Grundschüler schleppen eine Last in die Schule, deren Gewicht zu ihrer Körpergröße in keinem Verhältnis steht. Die Schulbuchverlage blähten ihre Lehrwerke mit zu vielen Bildern und zu vielen Texten auf. Damit entsprechen sie zwar den Vorgaben praxisferner Lehrplanentwickler, die sie auch zum Teil selbst mit beeinflussen. Aus Zeitgründen wird nur ein kleiner Teil des Bücherinhalts überhaupt im Unterricht behandelt. Zudem behelfen sich die Lehrer mit zahllosen zusätzlichen Arbeitsblättern.

Ist das »Kreidezeitalter« vorbei?

Es gibt Schulen, welche deswegen sogar dazu übergingen, in manchen Fächern zwei Klassensätze bereitzuhalten: einen, der zu Hause verbleibt, und einen, der in der Schule lagert. Da dieses Luxusangebot zwar die Verlage freut, aber auf Dauer zu teuer ist, wird als Lösung der erste Schritt der Digitalisierung angepriesen: Das Buch verbleibt in der Schule, während es zu Hause über das Internet eingesehen werden kann. Doch zum einen sind nicht alle Eltern einverstanden, wenn das Kind zu Hause schon in frühen Jahren am Rechner hängt, zum anderen gibt es durchaus ärmere Familien, die zwar über das Mobiltelefon ins Internet gehen können, aber keinen Arbeitsplatzrechner zu Hause stehen haben.

Der nächste Schritt der Digitalisierung ist dann die gänzliche Abschaffung von Büchern, Tafeln und Kreiden. Das »Kreidezeitalter« sei nun vorbei, heißt es. Viele versprechen sich davon Nutzen. Landesregierungen glauben, Geld einsparen zu können. Schulbuchverlage erhoffen sich über Abonnements fortlaufende und damit planbare, regelmäßige Einkünfte. Die Hersteller von Geräten und Programmen versprechen sich über Verkauf und Wartung ein gutes Geschäft. Somit gibt es eine breite Interessengemeinschaft für Digitalisierung an den Schulen. Entsprechend stark werben Politiker, Verlage und Hersteller dafür.

Erfolgreicher lernen mit digitalen Medien?

Doch wenn es um die Bildung junger Menschen geht, muß an erster Stelle der Lernerfolg das Maß der Dinge sein. Erst an zweiter Stelle folgen dann die Mittel, wie das zu erreichen ist. Das kann unter Umständen auch mit Hilfe digitaler Lernmittel geschehen. Eine Untersuchung der OECD kam 2015 jedoch zu dem Ergebnis, daß in den Ländern, die im Bildungsbereich viel Geld in die Informations- und Kommunikationstechnik stecken, „keine nennenswerten Verbesserungen in der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften“ festzustellen sind.

Das Lernen mit elektronischen Hilfsmitteln kann sogar schädlich sein. Dies jedoch verschweigen die Verfechter der Digitalisierung, welche die Zukunft in den schönsten Farben ausmalen. So entsteht »Die Lüge der digitalen Bildung«: das klaffende Loch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Des müssen sich Bildungspolitik und Öffentlichkeit bewußt sein, um sich nicht vom Zeitgeist einlullen zu lassen.

„So ein Buch würde ich nicht verwenden“

Aufklärung verschafft hier das Buch von Lembke und Leipner, das unbequeme Wahrheiten offenlegt. Wie mutig ihr Unterfangen ist, zeigt die folgende Begebenheit: An einer norddeutschen Universität sitzt ein Student in der Bibliothek und hat unter anderem dieses Buch vor sich liegen. Da kommt ein Dozent auf ihn zu und spricht ihn an: „So ein Buch würde ich nicht verwenden, sonst könnte das später mit der Anstellung schwer werden.“

Ein Buch, das eine solche Brisanz besitzt, muß erst recht bekannter gemacht werden. Es handelt sich aber nicht einfach nur um eine Kampfschrift gegen den Digitalisierungswahn. Es bietet weit darüber hinaus zahlreiche Informationen und Bedenkenswertes darüber, wie Bildung entsteht und was die besten Voraussetzungen dafür sind. Die Autoren berufen sich in allen ihren Urteilen – anders als so mancher Digitalisierungsverfechter – auf Forschungsergebnisse. Erst diese wissenschaftliche Grundlage macht das Buch so wertvoll.

Der erste Teil legt den Schwerpunkt auf Kleinkinder, Kindergarten und Grundschule; der zweite Teil auf weiterführende Schulen, Ausbildung und Studium. Die Verfasser gehen drei Leitfragen nach: Erstens: Wie verläuft die kognitive Entwicklung von Kindern? Zweitens: Welche Wirkung haben digitale Medien auf den einzelnen Entwicklungsstufen? Drittens: Welche pädagogischen Konzepte sind für diese Entwicklungsstufen angemessen? Dabei finden sie zahlreiche Belege für ihre zehn provokativen Thesen. 1. These: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“ 5. These: „Wer bei einem Lernprozeß die Wahl zwischen realen und virtuellen Hilfsmitteln hat, sollte sich für die Realität entscheiden …“ 8. These: „Egal ob Tablet oder Kreidetafel – die Qualität des Unterrichts steht und fällt immer mit der Persönlichkeit des Lehrers.“

Dabei lassen die Autoren auch einen Zeugen zu Wort kommen, der leider zu selten gefragt wird, nämlich das Gehirn: „Ich bringe einen eigenen Bauplan auf die Welt mit – und habe entsprechende Ansprüche, damit ich mich gut entwickeln kann. Verschont mich bitte mit digitalen Medien, weil sie sich völlig gegen meine hirnphysiologischen Bedürfnisse richten.“ Ergebnisse aus der Hirnforschung sind grundlegend für das Buch. Lembke und Leipner stützen sich auf die Erkenntnisse der Gehirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt. Diese kommt im abschließenden Kapitel »Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie das Gehirn« zu Wort.

Fünf Hürden auf dem Weg zur Intelligenz

Teuchert-Noodt nennt fünf Hürden auf dem Weg zur Intelligenz, die durch digitale Medien nicht beseitigt, sondern im Gegenteil höher gemacht werden.

Die erste Hürde ist die Körperbewegung: Digitale Medien schränken das Bewegungsverhalten der Kinder ein, was die aktive und dynamische Phase der Hirnreifung belastet. Der Aufbau kognitiver Fähigkeiten wird gestört.

Die zweite Hürde ist die Verankerung kognitiver Funktionen: Angeeignete Bewegungsabläufe helfen dabei, geistige Zusammenhänge zu erkennen. Stundenlanges Sitzen vor Fernseher und Rechner behindert den Aufbau dieser Lerngrundlage.

Die dritte Hürde ist die „Neuroplastizität“, also die flexible Anpassung des Hirns an neue Bedingungen: Wischen, Tippen und Klicken auf Bildschirmen und Tastaturen schaden der Gehirnentwicklung, weil es nicht die Feinmotorik übt. Das Schreiben mit dem Stift fördert die geistige Entwicklung wesentlich stärker.

Die vierte Hürde ist die „motivational-emotionale Zuwendung“: Elektronische Geräte aktivieren einseitig das Belohnungssystem, das über Opiate und Dopamin angefeuert wird. Die Kinder vernarren sich dadurch in die Geräte, kommen nicht mehr davon los, es besteht Suchtgefahr! Das Stirnhirn ist bei Kindern und Jugendlichen nämlich noch nicht in der Lage, kognitive Konflikte zu kontrollieren: „Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung“. Wird die Reifung des Stirnhirns gestört, können sich Überaktivität, Konzentrations- und Denkschwächen einstellen.

Die fünfte Hürde schließlich ist die „Schlafhygiene“: Digitale Medien bringen durch Überreizung den Rhythmus der Hirnströme durcheinander. Am Abend machen sich langsame Wellen auf den Weg vom Hirnstamm zum Stirnhirn. Sie leiten dort den Tiefschlaf ein, „ab und zu unterbrochen durch rhythmische Impulse aus dem Hippocampus. Das ist gut für die Gedächtnisbildung“.

Der Genuß digitaler Medien stört diesen Prozeß. Vor dem Schlafengehen sollte man also lieber Vokabeln lernen oder ein gutes Buch lesen, zum Beispiel dieses!

Gerald Lembke, Ingo Leipner: Die Lüge der digitalen Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen, Redline-Verlag, München 2018, 3., überarbeitete Auflage, 256 Seiten, gebunden, 19,99 Euro.

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