Das ausgeblutete Land
Dem Moskauer „Putsch“ gegen den Staatszerfall 1991 folgte der Durchmarsch der russischen Neoliberalen.
von Ulrich Heyden
Was die Mitglieder des Moskauer Notstandskomitees, die im August 1991 Panzer in Moskau auffahren ließen, genau für Pläne hatten, ist bis heute nicht erforscht. Ihr Handeln war so wenig durchdacht wie das Handeln von Michail Gorbatschow, der zwischen Liberalisierung und Zentralisierung hin und her schwankte. Nach Meinung des russischen Linkspolitikers Nikolai Platoschkin trägt Gorbatschow mit seiner Anordnung vom Januar 1989, die Betriebe selbst entscheiden zu lassen, was sie produzieren, Schuld an der rasanten Verarmung der Bevölkerung. Dass sich die Sowjetunion auflöste, habe aber auch mit den Interessen der sowjetischen Republiks-„Fürsten“ zu tun, so der Politiker, der mehrere historische Bücher schrieb. Die Mehrheit der Bevölkerung in Russland, Weißrussland, der Ukraine und den zentralasiatischen Republiken habe sich im März 1991 in einem Referendum noch für den Erhalt einer reformierten Sowjetunion ausgesprochen. Dem gescheiterten Putsch eines Teils der Sowjetführung folgte der Durchmarsch der russischen Neoliberalen, die unter Anleitung des US-Ökonomen Jeffrey Sachs eine Schocktherapie durchzogen, welche die Armut dramatisch vergrößerte.
Als Nikolai Platoschkin am 19. August 1991 für Einkäufe in die Innenstadt von Bonn fuhr, sah er Unglaubliches. Der damals 25 Jahre alte Attaché der sowjetischen Botschaft in Bad Godesberg sah wie gebannt in ein Schaufenster:
„Damals stellte man noch Fernsehgeräte im Schaufenster zum Verkauf aus. Auf einem Gerät sah ich plötzlich Panzer auf dem Roten Platz in Moskau. Es war eine Livesendung. Ich war natürlich total überrascht. Was bedeutete das? In der Sowjetunion war alles nicht nur stabil, es war superstabil. Alles war kostenlos. Die Biografie war vorgezeichnet. Schule, Hochschule, Arbeit. Arbeit gab es in Hülle und Fülle. Es war ein bisschen langweilig, würde ich sagen. Über irgendwelche Demonstrationen, Kundgebungen, Staatsstreiche, Kriege berichtete das sowjetische Fernsehen nur aus der westlichen Welt und aus Entwicklungsländern. Und plötzlich Panzer in der Stadtmitte von Moskau.“
Gemischtes Bild bei der Abstimmung über eine reformierte Union
Die von Michail Gorbatschow 1985 ausgerufene Perestroika (Umbau) leitete in der Sowjetunion einen unkontrollierten Prozess ein. Regionen und Republiken forderten mehr Selbstständigkeit und bald auch die Unabhängigkeit von Moskau. Das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Autonome Gebiet Berg-Karabach forderte 1987 die Herauslösung aus der Republik Aserbaidschan und die Vereinigung mit der Republik Armenien. Aserbaidschaner rächten sich mit Pogromen gegen Armenier 1988 in Sumgait und 1990 in Baku.
Gorbatschow gab den Unabhängigkeitsbestrebungen der Leiter der Sowjetrepubliken nach. Am 17. März 1991 stimmten die Menschen in der Sowjetunion über den Erhalt einer Sowjetunion als Föderation „gleichberechtigter souveräner Republiken“ ab. Sechs der 15 Sowjetrepubliken boykottierten die Abstimmung.
Die Abstimmung sei ein klares Signal für den Erhalt der Sowjetunion gewesen, auch wenn sechs Republiken ― Aserbaidschan, Armenien, Moldau und die drei baltischen Republiken ― mit zehn Prozent der Sowjetbevölkerung nicht an der Abstimmung teilnahmen, meint Platoschkin, der zahlreiche Bücher zu historischen Themen geschrieben hat.
„In der Ukraine stimmten 80 Prozent der Menschen für den Erhalt Sowjetunion, also mehr als in Russland, wo 77 Prozent für die Sowjetunion stimmten. In Mittelasien stimmten 93 bis 97 Prozent dafür. Die geringste Zahl derjenigen, die für die Sowjetunion stimmten, gab es in Moskau, weil Boris Jelzin in Moskau sehr populär war.“
Als nächsten Schritt plante Gorbatschow einen Vertrag, der den 15 Republiken mehr Selbstständigkeit garantieren sollte.
Platoschkin, der 2019 in Russland die „Bewegung für einen neuen Sozialismus“ gründete, erinnert sich:
„90 Prozent der Menschen in der Sowjetunion, zu denen ich auch gehörte, meinten, wir sind für den neuen Vertrag, Hauptsache, die Sowjetunion bleibt erhalten. Es gab aber die Unionsbürokratie, die sagte, dass dieser neue Unionsvertrag eigentlich die Auflösung der Sowjetunion bedeutet. Auf dem Papier hätte die Sowjetunion weiter existiert, aber in dem Vertrag gab es keine Vorrechte für die föderalen Institutionen mehr. Die Sowjetunion hätte mit dem neuen Vertrag praktisch zu existieren aufgehört. Die Unionsbürokratie hatte damals recht. Ich war im Unrecht.“
Am 19. August 1991, einen Tag vor der geplanten Unterzeichnung eines Vertrages, der den Sowjetrepubliken mehr Selbstständigkeit geben sollte, holten die Altkommunisten, welche alle der sowjetischen Führung angehörten, zum Gegenschlag aus.
Jelzin wurde nicht verhaftet
Um sechs Uhr morgens verkündeten Radio und Fernsehen die Verhängung des Ausnahmezustands. Ein Notstandskomitee unter Leitung des damaligen Vizepräsidenten der Sowjetunion und Gewerkschaftssekretärs Gennadi Janajew, dem Verteidigungsminister Dmitri Jasow und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow übernahm die Macht in Moskau. 4.000 Soldaten und 362 Panzer rückten in Moskau ein.
Abends gaben Vertreter des Notstandskomitees eine Pressekonferenz. Doch die Putschisten zeigten statt Angriffslust Unsicherheit. Walentin Pawlow, Ministerpräsident der Sowjetunion, konnte wegen Kreislaufproblemen nicht an dem öffentlichen Auftritt teilnehmen. Auch der Leiter des Notstandskomitees, Gennadi Janajew, machte keinen entschlossenen Eindruck. Die ganze Welt sah, wie seine Hände zitterten.
Nach Meinung von Nikolai Platoschkin war Gorbatschow in den Putsch eingeweiht: „Mitglieder des Notstandskomitees hatten Gorbatschow einen Tag vor dem Aufruf des Komitees auf der Krim besucht. Sie erklärten, wir probieren den Ausnahmezustand einzuführen, wahrscheinlich werden wir dann den Staat kontrollieren.“ Gorbatschow habe bei dem Gespräch erklärt: Machen Sie, was Sie wollen. Aber im Falle des Scheiterns zählen Sie nicht auf mich.
„Viele Bürger der Sowjetunion meinten damals, dass dieses Komitee einen verfassungsfeindlichen Staatsstreich gegen Gorbatschow durchgeführt hatte. Deshalb gingen damals in Moskau viele auf die Straße, um Jelzin zu verteidigen. Jelzin positionierte sich nicht als Gegner von Gorbatschow, sondern als Verteidiger von Gorbatschow, der auf der Krim im Hausarrest säße.
Der Vorsitzende des KGB sagte damals, wir müssen das Weiße Haus in Moskau, wo Jelzin sich verschanzt hat, stürmen, weil Jelzin sich gegen das Notstandskomitee gestellt hat. Aber die Mehrheit des Komitees sagte, wenn wir das Weiße Haus stürmen, wird es Opfer geben. Das möchten wir nicht. Wir möchten die Sowjetunion erhalten, aber ohne Blutvergießen. Das war der Grund, warum das Komitee scheiterte. Die Leute waren nicht gewillt, Waffen gegen das eigene Volk einzusetzen.“
KGB-Chef Krjutschkow war schon seit Dezember 1990 auf den Ausnahmezustand vorbereitet. Den auf seiner Datscha in Foros (Krim) weilenden Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hatte man zwar unter Hausarrest gestellt, nicht aber dessen Gegenspieler Boris Jelzin. Dieser wurde von der Sondereinsatzgruppe Alpha nur beobachtet, in seiner Bewegungsfreiheit aber nicht eingeschränkt.
Bereits am ersten Tag des Putsches traf Jelzin um neun Uhr morgens vor dem Weißen Haus ein, wo er den Widerstand gegen die Putschisten organisierte. Um zwölf Uhr mittags hielt er, auf einem Panzer der Taman-Division stehend, seine berühmte Rede, in der er vom Versuch eines Staatsstreichs sprach und zum Widerstand aufrief.
Die Maßnahmen der Putschisten wirken im Nachhinein dilettantisch. Die Mitglieder der staatlichen Gewerkschaften wurden nicht zur Unterstützung der Putschisten mobilisiert.
Teile der Truppen und KGB-Sondereinheiten verweigerten ihren Kommandeuren die Gefolgschaft.
Putschisten so hilflos wie Gorbatschow
Am Morgen des 21. August gab Verteidigungsminister Jasow den Befehl, die Truppen aus Moskau wieder abzuziehen. Drei Tote waren zu beklagen. Es waren junge Männer, die vor dem Weißen Haus unter Schützenpanzerwagen geraten waren. Einen Schießbefehl gab es während des Putsches nicht. Die Panzer gaben keinen einzigen Schuss ab. Und im Nachhinein kann man feststellen, dass die Altkommunisten nicht blutrünstig waren. Im August 1991 wurden drei Menschen getötet, als Boris Jelzin im Oktober 1993 die Beschießung des Weißen Hauses anordnete, mehrere Hundert.
Die Akten über die Vorgänge beim Augustputsch sind noch nicht öffentlich zugänglich. Vieles liegt noch im Dunkeln. So stellt sich vor allem die Frage, ob man die Ereignisse im August 1991 überhaupt als Putschversuch bezeichnen kann. Welches Ziel das „Notstandskomitee“ eigentlich verfolgte, ist bis heute nicht endgültig aufgeklärt. Tatsache ist, dass der Augustputsch den marktradikalen Reformern um Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais einen mächtigen Schub verpasste. Zwischen dem 24. August und dem 16. Dezember 1991 riefen alle Republiken der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit aus oder bestätigten schon früher gefasste Unabhängigkeitserklärungen. Am 31. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion formal auf zu existieren.
Gorbatschow ohne Plan
Es schien, als habe Michail Gorbatschow trotz vieler allgemeiner Worte keine Analyse, keinen Plan und keine Prognose, wie sich politische und wirtschaftliche Reformen in der Sowjetunion auswirken werden. Der Reformprozess war ihm in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre aus den Händen geglitten. Er wirkte als Getriebener und nicht als jemand, der einen Zug, bei dem plötzlich die Bremsen nicht mehr funktionieren, noch stoppen kann.
Der August-„Putsch“ der Altkommunisten wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Platoschkin:
„Natürlich haben die Fürsten der Republiken den Putsch dann zum Anlass genommen, um sich unabhängig von Moskau zu machen. Sie wollten das vorher schon. Der Putsch gab ihnen dann den Anlass.“
Die Altkommunisten waren durch die Niederlage beim „Putsch“ demoralisiert. Jelzin verbot die Kommunistische Partei (KP). Nun hatten auch die Marktradikalen Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais freies Feld, um das volle Programm der Wirtschaftsliberalisierung durchzuziehen.
Verarmung der Bevölkerung begann 1989
Nach Meinung von Platoschkin war Gorbatschow mitschuldig am Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Denn der Generalsekretär erlaubte den Staatsbetrieben, die Monopolisten waren, mit einem Gesetz, dass sie nun selbst entscheiden können, was sie produzieren und dass sie den Gewinn einbehalten können. Dieses Gesetz im Januar 1989 in Kraft getretene Gesetz führte zum totalen Chaos in der Lebensmittelversorgung. Platoschkin:
„Früher gab es eine festgesetzte Menge an Brot, die an einem Tag produziert werden musste. Die Betriebsführung sagte nun, wieso sollen wir jetzt Brot für 20 Kopeken produzieren? (Die Gehälter lagen damals im Durchschnitt bei 250 Rubel, Anmerkung des Autors.)
Plötzlich verschwanden Brot und Seife aus den Regalen in den Geschäften. Haushaltsseife kostete in der Sowjetunion zehn Kopeken. Die Fabriken produzierten aber nur noch Seife bester Qualität für zwei Rubel, denn diese brachte der Fabrik den größten Profit. Damals begannen die Bergarbeiter zu streiken, weil sie keine Seife mehr in den Geschäften fanden.
Ich kam im Juni 1990 zum Urlaub nach Moskau. In einem großen Möbelgeschäft wollte ich ein Bücherregal kaufen. Doch es gab nichts. Es gab kein Defizit, sondern es gab überhaupt nichts. In den Lebensmittelgeschäften gab es drei Liter Birkensaft. Sonst nichts.
Wenn man in ein Lebensmittelgeschäft kam, fragte man nicht, ob es Käse oder Brot gibt, sondern ob es etwas zu Essen gibt. Das hatte Gorbatschow in einem Jahr bewerkstelligt.
Im Jahr 1988 war das Leben eigentlich noch normal gewesen. Aber im Sommer 1991 kämpften die Menschen ums Überleben. Sie waren entpolitisiert.
Während ich in der Sowjetunion aufwuchs, gab es kein einziges Mal eine Veränderung der Lebensmittelpreise. Aber 1991 stiegen die Preise um das Zehn- und Zwanzigfache, nicht aber die Gehälter.
Das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurden 1991 sogar in Moskau Lebensmittelkarten eingeführt. Denn es gab plötzlich keinen Zucker mehr. Alles wurde rationiert. Sie können sich vorstellen, wie die Stimmung in der Bevölkerung war.“
Schocktherapie in schnellen Schritten
Die Marktwirtschaft in Russland begann wie ein schlechter Silvesterscherz. Am 2. Januar 1992 trat eine von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten und Finanzminister Jegor Gaidar vorbereitete Freigabe der Verbraucherpreise in Kraft. Nur für einen kleinen Teil der Waren (Brot und Milch) und Dienstleistungen (öffentliche Verkehrsmittel) blieb die staatliche Preisfixierung bestehen. Dies war der erste Schritt einer Schocktherapie, mit welcher Gaidar Russland innerhalb kurzer Zeit von einer Plan- in eine Marktwirtschaft überführen wollte. Dabei setzte der stellvertretende Premier auf den Überraschungseffekt für eine weitgehend unvorbereitete und unwissende Bevölkerung. Der Preisfreigabe folgten die Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols und die Privatisierung der Staatsbetriebe.
Die Läden füllten sich nun zwar wieder mit Waren, aber die Bürger hatten kein Geld, um diese Waren zu kaufen. Der Rubel war durch die Hyperinflation wertlos geworden. Die Inflationsrate kletterte 1992 auf unvorstellbare 2.600 Prozent. Damit waren die Sparguthaben der Sowjetzeit entwertet.
Ein Grund für die unglaubliche Inflation war, dass die Regierung 1991 versucht hatte, die Produktion in Industrie und Landwirtschaft durch Kredite anzukurbeln. Die Geldmenge nahm deshalb drastisch zu. Gaidar schob die Schuld für die wirtschaftlichen Probleme bei der Umsetzung seiner Schocktherapie ― dazu gehörte nicht nur die Freigabe der Preise, sondern auch die Freigabe der Löhne und die Legalisierung des Handels ― auf die Kommunisten und die Anhänger eines staatlich regulierten Übergangs zur Marktwirtschaft, welche im Obersten Sowjet ― dem Parlament ― immer noch die Mehrheit hatten.
Jungakademiker übernehmen das Ruder
Der Verantwortliche der Schocktherapie Jegor Gaidar entstammte einer Familie der kommunistischen Elite. Im Jahr 1987 wurde Gaidar Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim Parteiorgan Kommunist, 1990 Leiter des Wirtschaftsressorts bei der Parteizeitung Prawda. Boris Jelzin, der am 12. Juni 1991 zum ersten Präsidenten der russisch-sowjetischen Teilrepublik (RSFSR) gewählt worden war, ernannte Gaidar im November 1991 zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und Finanzminister.
Mit Gaidar zog im November 1991 auch Anatoli Tschubais in die Regierung ein. Der Jungakademiker, der zuvor den Bürgermeister von St. Petersburg in Wirtschaftsfragen beraten hatte, wurde Vorsitzender des Komitees für die Leitung des Staatseigentums. Von diesem Schlüsselposten aus leitete Tschubais die erste Privatisierungswelle der Staatsbetriebe.
Gaidar und Tschubais waren nicht die einzigen Jungakademiker, die Jelzin in die Regierung holte. Der Großteil der neuen Kabinettsmitglieder kam aus einem informellen Moskau-Leningrad-Zirkel von Wirtschaftsreformern, der sich ― initiiert durch ein Treffen von Gaidar und Tschubais in Moskau im Jahre 1982 ― gebildet hatte und regelmäßige wissenschaftliche Konferenzen durchführte.
Jungreformer bereits 1987 für Auflösung der Sowjetunion
Die Jungakademiker diskutierten auf ihren Konferenzen zunächst die Erfahrungen der Wirtschaftsreformen in Jugoslawien und Ungarn. Im Laufe der Jahre wurden ihre Konzepte dann konkreter: Bereits 1987 wurde im Leningrader „Perestroika-Klub“ über die Auflösung der Sowjetunion und die Privatisierung des Staatseigentums mithilfe von Vouchern (Anteilsscheinen des Volkes am Staatseigentum, siehe unten) diskutiert. Schon damals kamen die Jungreformer zu der Einschätzung, dass die Wirtschaftsreformen nur in einzelnen Republiken, nicht aber in der Sowjetunion insgesamt durchführbar seien.
Dass die jungen Reformer, die sich 1982 in informellen Klubs zusammenschlossen, zehn Jahre später bereits die Macht in einem bis dahin fest gefügten Staat übernahmen, scheint auf den ersten Blick erstaunlich. Doch in der Sowjetunion gab es Anfang der 1980er-Jahre keine Aufbruchstimmung und keinen revolutionären Elan mehr, meint der Historiker Platoschkin.
„Jungs in rosa Höschen“
Dass die Regierung 1991 plötzlich voller junger Akademiker ohne Leitungserfahrungen war ― Gaidar und Tschubais waren damals beide erst Mitte dreißig ―, nutzte die kommunistische Opposition für ihre Agitation. Sie nannte die Wirtschaftsreformer in der Regierung „Jungs in rosa Höschen“.
Die Bezeichnung bedarf einer Erklärung. Nach der sowjetischen Tradition saßen in der Regierung füllige Männer mit grimmigen Gesichtern, also richtige Muschiki, wie die „harten Männer“ im Russischen genannt werden. Die jungen Wirtschaftsreformer waren schlanke Intellektuelle. Wie sollte es diesen „Halbstarken“ gelingen, einen Riesenstaat wie Russland zu lenken, stänkerte die Opposition. Doch damit nicht genug: Auf den Demonstrationen der stalinistischen Organisation „Werktätiges Russland“ sah man 1993 neben Plakaten, auf denen die Wiederherstellung der Sowjetunion gefordert wurde, Parolen gegen die Schidy (Schimpfwort für Juden) in der Regierung. In den Medien zirkulierten zudem Gerüchte, in der Jelzin-Regierung säßen Schwule.
Die „jungen Reformer“ schafften es bis in die Putin-Ära
Dass unter Wladimir Putin ab dem Jahre 2000 viele ehemalige Geheimdienstler Posten in der Präsidialverwaltung und Staatsunternehmen bekamen, führte im Westen zu der Meinung, Russland werde von einer Geheimdienstclique gelenkt. Tatsächlich war es jedoch ein Bündnis von marktradikalen Reformern und Geheimdienstleuten, die ab 2000 Russlands Geschicke lenkten.
Anatoli Tschubais leitete von 1998 bis 2008 die staatliche Elektrizitätsgesellschaft EES Rossii und von 2013 bis 2020 das staatliche Technologieunternehmen Rosnano.
Alexei Kudrin, Mitglied von Tschubais´ Leningrader „Perestroika-Klub“ wurde 2000 unter Putin Finanzminister. Seit 2018 ist er Chef des russischen Rechnungshofes.
Pjotr Awen ― Mitglied des Moskauer „Perestroika-Klubs“ wurde im November 1991 Minister für Außenwirtschaftsbeziehungen. Seit 1994 ist Awen Präsident der Alfa-Bank. Nach Angaben der Zeitschrift Forbes hatte er im Jahr 2020 ein Vermögen von 4,6 Milliarden Dollar.
Andrei Illarionow war während der Perestroika Mitglied des Leningrader Klubs „Sintes“. Im Jahre 2000 wurde er Wirtschaftsberater von Putin. 2005 wurde er entlassen. Illarionow lebt jetzt in den USA, von wo aus er die rechtsliberale russische Opposition unterstützt.
US-Chefberater Jeffrey Sachs steht russischen Reformer zur Seite
Den jungen russischen Reformern stand Anfang der 1990er-Jahre mit dem damals 38-jährigen Jeffrey Sachs ein äußert agiler Wirtschaftsberater aus den USA zur Seite. Sachs hatte schon in Bolivien eine Schocktherapie durchgesetzt.
Durch die unter seiner Anleitung von Jegor Gaidar in Russland durchgeführte Schocktherapie kam es zu massiven sozialen Einschnitten und zu einem Wirtschaftschaos, in dem sich Mafiagruppen, Spitzenbeamte und Raubritterkapitalisten ungehindert bereichern konnten. Von 1989 bis 1997 sank die Industrieproduktion um 42 Prozent. 1995 lagen die Realeinkommen um 45 Prozent unter den Einkommen von 1991. In Moskau gehörte es in den 1990er-Jahren zum Alltag, dass an den Metrostationen junge und ältere Frauen in langen Reihen stehend alte Kleider, Kochtöpfe und Billigware verkauften.
Panzer-Attacke gegen die Linksnationalen
Unter Gaidar entwickelte sich der Konflikt zwischen dem Kreml und der Regierung auf der einen und der links-nationalen Opposition im Obersten Sowjet (dem damaligen Parlament) und dem Kongress der Volksdeputierten auf der anderen Seite zu einem Machtkampf, der im Oktober 1993 schließlich zum Einsatz von Panzern und zu Blutvergießen führte. Es war die zweite schwere Staatskrise, die Russland Anfang der 1990er-Jahre durchmachte.
Der Machtkampf 1993 begann im September mit einer Verfassungskrise. Präsident Jelzin und der Oberste Sowjet setzten gegenseitig ihre Beschlüsse außer Kraft. Höhepunkt der Staatskrise war am 4. Oktober 1993 die Beschießung des Weißen Hauses, dem Sitz des Parlaments, durch Panzer.
Nikolai Platoschkin arbeitete im Oktober 1993 im russischen Außenministerium, in einem Hochhaus im Zuckerbäckerstil aus der Stalinzeit, nur einen Kilometer vom Weißen Haus entfernt. „Jelzin ließ auf das neue, russische Parlament schießen, nicht auf das sowjetische, dass in dem gleichen Weißen Haus seinen Sitz hatte, dass Jelzin 1991 okkupierte. Im Zentrum von Moskau gab es Hunderte von Toten. Die Kugeln flogen damals bis zum Außenministerium. Ich bin damals an die Leitung des Außenministeriums herangetreten und habe vorgeschlagen, die weiblichen Mitarbeiter nach Hause zu schicken. Denn man konnte von einer zufälligen Kugel getroffen werden. Das war 1993 Demokratie, als Jelzin das Parlament mit Panzern und Scharfschützen zusammenschießen ließ.“
Westliche Medien befürworteten „unvermeidliche Radikalkur“
Die westlichen Medien rechtfertigten Jelzins Vorgehen als „unvermeidliche Radikalkur“. Wer damals in Deutschland die Beschießung des Weißen Hauses kritisierte, sah sich häufig dem Vorwurf ausgesetzt, dem sowjetischen System nachzutrauern. In der westlichen Medienberichterstattung ging damals völlig unter, dass der Präsident des Obersten Sowjet Ruslan Chasbulatow und der Vizepräsident Russlands Alexander Ruzkoi beim Putsch der Altkommunisten im August 1991 noch fest an der Seite von Boris Jelzin gestanden hatten. Sie gehörten nicht zu den Altkommunisten, traten für einen kontrollierten Übergang zur Marktwirtschaft und gegen die Schocktherapie auf.
Nikolai Swanidse, ein bekannter Journalist, der beim staatlichen Fernsehkanal Rossija arbeitet und häufig auch im deutschen Fernsehen zu Wort kommt, verteidigt bis heute die Beschießung des Parlaments als eine notwendige Maßnahme, die den Weg für die demokratische Entwicklung Russlands frei gemacht habe. Der Widerstand des Parlaments im Oktober 1993 sei „der letzte, krampfhafte Versuch des reaktionärsten Teils der Parlamentsnomenklatura (gewesen), erneut an den heiß ersehnten Futtertrog zu kommen“, so der bekannte russische Fernsehmoderator, dessen Großvater Nikolai Samsonowitsch Swanidse nach der Revolution hoher Parteifunktionär war.
Jelzin habe keine andere Wahl gehabt, so Journalist Swanidse. Er sei gezwungen gewesen, „den geschlossenen Kreis verlogener Legitimität (gemeint ist das Parlament, Anmerkung des Autors) zu zerbrechen“. Sonst hätte er das Land „durch seine Entschlusslosigkeit zugrunde gerichtet“.
Anatoli Tschubais, der 1992 die Privatisierung der Staatsbetriebe einleitete, erklärte in einem Spiegel-Interview im Jahre 2007, zum radikalen Wirtschaftsumbau habe es keine Alternative gegeben. Wenn es keine Reformen gegeben hätte, wäre ein Bürgerkrieg ausgebrochen. „Wie so oft in der russischen Geschichte hätten Hunderttausende ihr Leben gelassen. Das beschreibt den wahren Wert unserer Reformen und nicht, dass Oligarchen heute Milliarden besitzen.“
Der große Raubzug
In den 1990er-Jahren übernahm eine neue Klasse die Macht in Russland. Es waren vor allem Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol. Die neuen Akteure in Politik und Wirtschaft waren gebildet, beherrschten Fremdsprachen und verfügten über gute Verbindungen, weil sie meist aus Familien der alten KP-Elite stammten.
Während der Perestroika-Zeit hatten die Jungkomsomolzen in den neu gegründeten Genossenschaften bereits erste Erfahrungen als Unternehmer gesammelt. Zusammen mit dem von Korruption durchsetzten Beamtenapparat übernahmen die jungen Kommunisten nun das Ruder.
Niemand hielt sich mehr an Gesetze. Als 1992 das erste Gesetz zur Privatisierung von Staatseigentum in Kraft trat, waren bereits 2.000 Betriebe ohne juristische Grundlage privatisiert worden.
Zum Zug kamen skrupellose Geschäftemacher, Abenteurer, und Banditen, welche sich mittels Penetranz, Bestechung und oft auch Gewalt Einfluss auf die Entscheidungsträger in den staatlichen Verwaltungen gesichert hatten.
Anatolij Tschubais ― 1991 Minister für Staatseigentum, 1992 bis 1996 Vizepremier ― leitete 1992 eine erste Privatisierung von Staatsbetrieben über sogenannte Voucher. Da das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln in den Augen der Bevölkerung Eigentum des Volkes war, mussten die Wirtschaftsreformer die Privatisierung notgedrungen unter Einbeziehung der Bürger durchführen. So bekam jeder Bürger Russlands einen Voucher (Anteilsschein am Staatsvermögen) mit einem Nominalwert von 10.000 Rubel, was damals 17 US-Dollar entsprach. Anatoli Tschubais versprach, der Wert eines Vouchers werde in kurzer Zeit auf 200.000 Rubel ansteigen und dann könne man sich für einen Voucher zwei Limousinen der Marke Wolga kaufen. Doch das war nichts weiter als Betrug.
Über Händler, die in den Städten an Straßenkreuzungen und Metroeingängen standen und windigen Finanzfirmen in Hinterhöfen wurden die Voucher bei den Bürgern aufgekauft. Von dem Erlös seines Vouchers konnte sich der ehemalige Besitzer nicht mehr als zwei Flaschen Wodka kaufen. Manchmal bekam man auch nur ein paar Kopeken. Insgesamt wurden 150 Millionen Voucher ausgegeben. Davon gab es 2006 nur noch 40 Millionen Anteilsscheine. Die russischen Bürgerinnen und Bürger fühlten sich durch die ganze Aktion betrogen.
Im Jahr 1994 begann eine zweite Privatisierungswelle. Der Staat war hoch verschuldet. Die neuen Unternehmer konnten gegen Kredite, die sie dem Staat gaben, Eigentümer von weiteren Staatsunternehmen werden, und das meist zu einem sehr günstigen Preis. Ungeachtet ideologischer Differenzen kam es zwischen alten sowjetischen Direktoren und neureichen Abenteurern oft zu taktischen Allianzen. Die Neureichen befanden sich in einer Art Rausch. Es gab keine öffentliche Kontrolle. Alles schien möglich. Nur selten kümmerte es die Justiz- und Sicherheitsorgane, wenn bei Streitigkeiten um die Aufteilung des Staatseigentums Waffen eingesetzt und Konkurrenten durch Auftragskiller aus dem Weg geräumt wurden.
„Neue Russen“ ― skrupellose Kapitalisten
Von 1992 bis 2000 plünderten die „Nowije Russkije“ (die neuen Russen), wie sie genannt wurden, die gesamten Reichtümer des Landes. Der Staat verarmte, weil niemand einen Gedanken daran verschwendete, Steuern zu erheben, geschweige denn welche zu entrichten. Die Buchhalter der Unternehmen überreichten ihren Beschäftigten den Großteil des Gehalts im Briefumschlag, um Steuern zu sparen, eine Praxis, die bis heute verbreitet ist.
Für den Rohstoffexport gründeten die neuen Unternehmer Offshore-Gesellschaften auf den Kanalinseln und auf Zypern. Erdöl, Metalle und Holz wurden und werden, um Exportsteuern zu sparen, zum Niedrigpreis an die Offshore-Gesellschaften verdealt, und von denen dann zum höheren Weltmarktpreis an die Endabnehmer weiterverkauft.
Weil Fabriken, Institute und Schulen in den 1990er-Jahren keine Gehälter mehr zahlten oder die Gehälter nicht an die rasante Inflation anpassten, waren Arbeiter, Wissenschaftler und Lehrer gezwungen, eine andere Arbeit zu suchen oder mehreren Tätigkeiten gleichzeitig nachzugehen. Ehemalige Arbeiter und Angestellte, aber auch Lehrer und Ingenieure wurden mittels learning by doing zu Tschelnoki (russisch „Schiffchen“), das heißt fliegende Händler, die mit den riesigen, karierten Taschen und später Containern Billigware aus Polen, Dubai und China nach Russland brachten und dort auf Freiluftmärkten verkauften.
Die soziale Unsicherheit veränderte das Leben der Menschen radikal. Die Geburtenrate ging zurück, der Alkoholkonsum stieg.
Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: Die Bevölkerung in Russland reduzierte sich von 1989 bis 2009 von 147 auf 141 Millionen Menschen. Inzwischen leben in Russland wieder 146 Millionen Menschen.
Zwei Millionen Straßenkinder wurden in den 1990er-Jahren gezählt. Zehntausende von Frauen gerieten in die Gewalt skrupelloser Zuhälterbanden und landeten in den Bordellen Europas. Diese Banden konnten gesetzlich in Russland nicht verfolgt werden, denn gegen den Menschenhandel gab es keinen Artikel im Strafgesetzbuch.
Dass Wladimir Putin seit 2000 ziemlich fest im Sattel sitzt, hat vor allem mit den Erfahrungen der Russen in den 1990er-Jahren zu tun. Demokratie wurde damals zum Schimpfwort, denn Demokratie bedeutete praktisch Verarmung.
In den 1990er-Jahren haben die Russen fast alles verloren: ein großes Land, ihre Sparguthaben, ihre Karrieren, eine leidlich funktionierende Wirtschaft und Stabilität. Man sollte die Russen für ihren Konservatismus also nicht zu sehr schelten.
Quellen und Anmerkungen: Dieser Text ist ein überarbeitetes Kapitel aus dem Buch „Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland“, Ulrich Heyden/Ute Weinmann, Rotpunktverlag 2009.
Ulrich Heyden, Jahrgang 1954, ist seit 1992 freier Korrespondent in Moskau. Er arbeitet für den Freitag, Telepolis und RT Deutsch. Von 2001 bis 2014 war er Korrespondent der Sächsischen Zeitung. Parallel arbeitete er für einen Pool deutschsprachiger Zeitungen, unter anderem für die Salzburger Nachrichten, Die Presse, Aargauer Zeitung, Südostschweiz, Mittelbayerische Zeitung, Südkurier. Er ist Mitautor des Buches „Opposition gegen das System Putin“, Autor des Buches „Ein Krieg der Oligarchen. Das Tauziehen um die Ukraine“ und Co-Regisseur des Films „Lauffeuer“ über den Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014. Er kommentiert in russischen Fernseh- und Radio-Sendungen politische Ereignisse in Deutschland. Weitere Informationen unter www.ulrich-heyden.de.
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen. Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt der LAUFPASS diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass der Rubikon wie viele andere freie Medien auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht.
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