Wo ist die erste Welle?
Spurensuche in den Daten des RKIs und des Statistischen Bundesamtes
von Victor Conradt
Seit Monaten traktieren die Medien uns mit numerischen und grafischen Bedrohungsszenarien. Es wird dabei eine Scheinwirklichkeit konstruiert, welche die Angst vor Ansteckung, Krankheit und Tod befördert und uns glauben lässt, die drakonischen Maßnahmen und insbesondere die Grundrechtsverweigerung seien Notwendigkeiten im „Kampf gegen die Pandemie“. Doch was sehen wir wirklich, wenn wir auf die Dashboards des RKIs und die Grafiken von destatis.de schauen?
Die Wichtigste vorweg: Wir sehen immer kumulative Zahlen, das heißt „aufhäufende“ Zahlen. Dabei entstehen naturgemäß wachsende Summen. Die kumulative Zählweise führt immer zu einem ungebremsten Anstieg – gleichgültig, was hier gezählt wird. Selbst als seit Mai die Zahl der Todesfälle pro Tag massiv zurückging, stiegen die Zahlen in der kumulativen Zählung natürlich weiter. Wären Sterbezahlen rückläufig, hätten wir ein Zombie-Problem. Das kumulative Zählen der „Fälle“, die nie Erkrankte waren, nie Ansteckungsfähige waren, sondern nur positive Testergebnisse, erzeugte auch ein bedrohliches Bild. Natürlich steigen auch hier die Zahlen – wie sollte es auch anders sein? Eine differenzierte Zählweise blieb uns unser Krisenmanagement schuldig. Diese Zählweise hätte beschreiben müssen:
Wie viele Menschen tragen ein lebensfähiges und vermehrungsfähiges Virus in sich? Wie viele Menschen, die das Virus tragen, erkranken (mild, leicht, schwer)? Wie viele Menschen sterben an COVID-19 (= tragen ein lebendiges Virus und haben eine COVID-19-Symptomatik und keine andere Todesursache)? Dazu hätte für jeden Verdachtsfall die Anzucht des Erregers in Kultur erfolgen müssen, um sicherzustellen, dass die Symptome tatsächlich die Folge der SARS-CoV-2-Infektion sind.
Wären Sterbezahlen rückläufig, hätten wir ein Zombie-Problem
Wie also können wir einen belastbaren Blick auf die Ereignisse werfen, wenn uns die transparenten Daten fehlen? Neben den Antikörperstudien, die uns heute zeigen, dass COVID-19 in seiner Gefährlichkeit einer Influenza entspricht (1), sind es als Näherungswerte die Sterbestatistiken. Ein Wert steht uns in den Vergangenheitsdaten zur Verfügung, mit dem wir beurteilen können, ob wir in 2020 von einer furchtbaren Seuche heimgesucht wurden, welche die Menschen in bisher nie dagewesener Weise erkranken und sterben lässt: Es sind die Sterbefallzahlen. Diese unterscheiden zwar nicht, wer an COVID-19 gestorben ist, aber ihre absolute Zahl kann dazu dienen, zu prüfen, ob die Verbreitung eines neuen Corona-Virus zu einer Erhöhung der Gesamtsterblichkeit führte. Das geschah aber nicht – die Zahlen weisen im gesamten Jahr an keiner Stelle auf ein pandemisches Ereignis von besonderer Kraft hin. Im Gegenteil: Die Analyse der Sterbefallzahlen, welche das Statistische Bundesamt uns liefert, zeigt ein durchschnittliches Sterbegeschehen in Deutschland. Schaut man aber genauer hin und vergleicht die letzten Jahre miteinander, stellt sich heraus: 2020 ist ein Jahr der Untersterblichkeit. Und diese ist nicht gering. Denn nicht nur, dass weniger Menschen als in den Vorjahren starben, sondern es starben viel weniger Menschen, als hätten sterben müssen. Warum ist das so?
Ganz einfach: Die demografische Entwicklung verändert mit dem Altern der Gesellschaft auf natürliche Weise den Anteil der Menschen, deren Alter bereits über der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt. In der Altersgruppe über 80 Jahre, welche auch die Kernrisikogruppe von COVID-19 und Influenza ist, leben fast eine Million mehr Menschen als noch in 2016. Es starben aber nicht mehr, sondern weniger Menschen als im Mittel der Vorjahre (2).
„Rechtzeitig“ vor der normalen Grippesaison wurde die Intensivbetten-Kapazität in Deutschland reduziert. Dabei klagen die Kliniken seit Jahren schon in Herbst und Winter über die Überlastung durch die Atemwegsinfekte. Die Verringerung der Kapazität war die Folge einer Wiedereinführung von Personaluntergrenzen durch das Bundesgesundheitsministerium auf den Klinikstationen und erfolgte gegen die Proteste der Kliniken. Hinzu kommt der anhaltende Personalmangel für die Intensivabteilungen.
Quellen:
(1) Prof. Dr. John Ioannidis Meta-Studie, veröffentlicht von der WHO: https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf
(2) Die Behauptung, in Deutschland sei nichts passiert, weil die Präventionsmaßnahmen so gut gegriffen hätten (Präventionsparadoxon), ist widerlegt. Denn schon am 18.03.2020, dem Tag des Lockdowns, waren die Infektionszahlen bereits rückläufig. Der R-Wert lag am Tage des Lockdowns bereits unter der magischen 1. Der Maskenzwang wurde erst am 24.04.2020 verhängt, da war der Abschwung der Zahlen bereits überdeutlich sichtbar. Das bestätigt das RKI bereits im Bulletin 17-2020 und in den weiteren Ausgaben. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/17_20.pdf?__blob=publicationFile