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Demokratie

Demokratie
Foto: jacoblund/shutterstock.com

Eine biografische Annäherung an das Thema Demokratie


von Dr. Artur Aschmoneit


Diese Annäherung an das Thema ist sehr biographisch und wird auf viele fremd wirken. Meine erste Begegnung damit, wobei ich den Begriff „Demokratie“ natürlich noch nicht kannte, stammt aus dem Kindergartenalter. Damals verwüstete ein Polizeitrupp den Boden vor unserer Gartenlaube auf der Suche nach dort womöglich vergrabenen „staatsfeindlichen“ Flugblättern. Mein Vater hatte für sich die Konsequenz aus Krieg und Faschismus gezogen, Mitglied der KPD zu werden. Die Partei war 1956 verboten worden, womit die BRD das einzige Land in Europa war – neben den Diktaturen in Spanien und Portugal – in denen KommunistInnen illegalisiert waren. Das sollte zwölf Jahre so bleiben, genau so lange wie in der „NS-Zeit“. Jetzt wurden Flugblätter gesucht, auf denen gegen die Spaltung Deutschlands agitiert wurde und die verboten waren.

Wegen seiner politischen Betätigung wurde mein Vater zu einer Zuchthausstrafe von 13 Monaten verurteilt. Er saß ein mit Schwerverbrechern, ein Besuchsrecht für uns Kinder gab es nicht. Erst in diesem Jahr wird eine Ausstellung im Untersuchungsgefängnis zu den politisch Inhaftierten der Adenauer-Ära geplant.

Später in der Volksschule erlebte ich eine Szene, in der mein Vater einen Lehrer vor der versammelten Klasse davor warnte, mich erneut zu schlagen. Ich erinnere mich nicht an den Grund für die Ohrfeige, weiß aber: Zu dieser Zeit war die Prügelstrafe in der BRD noch erlaubt. Selbstverständlich hatte der Vorfall für mich als Achtjährigen keine politische Bedeutung. Er hat mich aber sicher geprägt und aufgezeigt: Was Recht heißt, aber Gewalt ist, kann nicht gerecht sein, und: Man kann sich gegen Unrecht zur Wehr setzen. Der Lehrer hat mich nie wieder angerührt.

Als ich im Gymnasium einer von zwei Schülern in meiner Klasse war, die nicht aus dem Bürgertum kamen, erlebte ich Ähnliches. Es war die Zeit der Schülerbewegung im Nachklapp zu 1968 und ich war renitent. Dafür kassierte ich von meinem Deutschlehrer, einem CDU-Stadtrat, eine Sechs für einen Aufsatz. Grund: Thema verfehlt. Ich klagte, gewann und begriff die Lehre. Die Möglichkeit, sich gegen Unrecht auch juristisch wehren zu können, wurde mir ein hohes Gut und gehört seitdem zu meinem ganz praktischen Verständnis von Demokratie (wenn mich damals allerdings ebenso die Frage nach der Kontinuität der Nazizeit im Beamtenapparat beschäftigte).

Gegen einen anderen Lehrer hatte ich keine Chance. Ich war sportlich kein Überflieger und er mein Klassen- und Sportlehrer. Neben einer Fünf in Latein war eine Fünf in Sport versetzungsgefährdend. Offen formulierte er das auch als Ziel – als Konsequenz für das Engagement bei einer Schülerzeitung. Ich konnte die Fünf in Latein wegbüffeln, und Jahrzehnte später entschuldigte sich der Lehrer für sein Vorgehen.

Das Gymnasium hatte mir auch deutlich gemacht, dass Demokratie und Gerechtigkeit nicht zuletzt soziale Komponenten haben. Das machte sich fest an kleinen Dingen wie den tollen Schulheften, Malkästen und Füllhaltern der Anderen und meinen billigen. Oder daran, wie selbstverständlich beim Winteraufenthalt im Schullandheim die Mitschüler aus „besseren Häusern“ eigene Skier und Ausrüstungen hatten und damit umgehen konnten. Oder sie mit neuen Schulbüchern ausgestattet waren, während ich die abgegriffenen aus der Bibliothek benutzte. Mindestens zwei Mitschüler wurden fast bis zum Abitur mitgeschleppt, obwohl jeder wusste, wie wenig sie dafür geeignet waren. Einer war ein Freiherr von und zu, der andere Sohn eines Zwieback-Fabrikanten. Eine weitere Lehre für mich: Formale Rechte zu haben, ist das Eine. Man muss sie sich auch nehmen (können) und gegebenenfalls erkämpfen.

In den 70ern herrschte die Wehrpflicht und es gab ein Recht auf Wehrdienstverweigerung. Dafür aber musste man vor einem Prüfungsausschuss „Gewissensgründe“ belegen. Bei mir wurden sie in zwei Instanzen nicht anerkannt. Dummerweise musste ich also mein Studium unterbrechen und zur Bundeswehr einrücken. Auch hier konnte ich viel lernen. Es gab die Institution von gewählten Vertrauensmännern, die den Rekruten in kleinen Dingen den Rücken stärken sollten, eine Errungenschaft im Gefolge von 1968. Zweimal kandidierte ich, beide Male wurde ich kurz vor der Wahl in eine andere Einheit versetzt. 

Der Grund war wohl, dass ich beim regelmäßig stattfindenden Politunterricht besseres Faktenwissen hatte als die dazu verdonnerten Ausbilder und meine Kritik nicht verbarg. So kam ein Unteroffizier ordentlich ins Schwitzen, als ich ihn um eine Begründung bat, warum nach den kürzlich verabschiedeten Notstandsgesetzen Truppen eingesetzt werden sollten gegen streikende Arbeiter oder demonstrierende Studenten. Solches sprach sich natürlich herum unter den Vorgesetzten. 

Paradoxerweise habe ich in der Bundeswehr gelernt, dass Aufbegehren im Kleinen möglich war, lange bevor der Begriff „ziviler Ungehorsam“ modern wurde. Eine Zeit lang war es meine Aufgabe, einem Major täglich irgendwelche Berichte über den Fahrzeugbestand der Kompanie zu überbringen. Natürlich gab es dafür Regeln. Irgendetwas wie „Panzerschütze Aschmoneit meldet dies und das“ mit Hand an der Mütze zum militärischen Gruß. Der Major war ein freundlicher älterer Schreibstubenmensch, der sich bald nicht mehr daran störte, daß ich ihn ohne „Männchenbauen“ mit „Guten Morgen, Herr Major“ begrüßte. Er war es auch, der mir irgendwann eines der schönsten Komplimente meines Lebens macht: „Aschmoneit, Sie sind der absolute Unsoldat!“.

Ich nahm mein Studium wieder auf und hatte das nächste Demokratie-Problem. Seit Langem wollte ich Lehrer werden, doch inzwischen gab es Willy Brandts „Radikalen-Erlass“. BewerberInnen für den Öffentlichen Dienst mussten ihre Gesinnung prüfen lassen. In der Folge kam es zu fast 1,5 Millionen Anfragen bei den Nachrichtendiensten über sie. Für mehr als tausend Menschen bedeutete das Berufsverbot. Unter diesen Bedingungen wollte ich lieber umsatteln. Brandt bezeichnete später den „Radikalen-Erlass“, der sich fast ausschließlich gegen Linke gerichtete hatte, als Fehler. Seine Reue ist sicher auch auf den breiten Protest im In- und Ausland zurückzuführen.

Nach der Uni hatte es mich in die IT verschlagen, die damals noch EDV hieß. Ich arbeitete bei einem renommierten Verlag und schrieb dort Handbücher für die im Hause entwickelten Computerprogramme. Später leitete ich ein Projekt zur Einführung der PC-gestützten Redaktionsarbeit. Zweimal wurde ich in den Betriebsrat gewählt. Zum roten Tuch wurde ich, als es wegen „Umstrukturierungen“ zu einer Entlassungswelle kommen sollte. Mit vielen KollegInnen organisierte ich Protestaktionen auch in der Öffentlichkeit.

Zu dieser Zeit war der Geschäftsführer ein US-amerikanischer Westpoint-Absolvent, der von deutschem Mitbestimmungsrecht nichts wissen wollte. Nun gab es das Problem, dass zwar meine Abteilung outgesourced wurde, ich als Betriebsrat aber einen Kündigungsschutz hatte. Ich wurde einer „Computersabotage“ bezichtigt und mir wurde fristlos gekündigt. Der Vorwurf war völlig haltlos, so dass der Betriebsrat der Kündigung widersprach. Damit blieb dem „Arbeitgeber“ nur die Möglichkeit, dessen Zustimmung von einem Arbeitsgericht ersetzen zu lassen. Fast drei Jahre dauerten zwei Arbeitsgerichtsverfahren, bis die Geschäftsführung klein beigeben musste. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Ermittlungsverfahren wegen erwiesener Unschuld eingestellt. Wie es aber in der Regel zugeht im Arbeitsrecht, wurde das Arbeitsverhältnis „einvernehmlich“ aufgelöst gegen Zahlung einer Abfindung. Die ganze Zeit über hatte das Unternehmen versucht, mich mürbe zu machen, indem es die Überweisung meines Gehalts verweigerte und mir nur einen Betrag in Höhe der Sozialhilfe zahlte. Dieses neuerliche Lernprogramm, diesmal in „betrieblicher Demokratie“, hätte ich ohne die Hilfe meiner Familie, des Betriebsrats und meiner Gewerkschaft nicht durchgehalten. So gehörte auch der Begriff „Solidarität“ zum Lernergebnis, nicht nur für mich persönlich.

Ein weiteres biographisches Beispiel will ich anführen. Nach rassistischen Anschlägen auch in meiner Stadt wollte die knallharte Neonazi-Szene aufmarschieren. Wie üblich wurden Tausende PolizistInnen aufgeboten, um sie vor einem Vielfachen an protestierenden Menschen zu schützen. Es gab Tausende, die sich an Sitzblockaden beteiligten, unter anderem meine Tochter, die einem Aufruf der SchülerInnenvertretungen gefolgt war. Sie wurde mit mehreren Dutzend anderen Minderjährigen von der Polizei eingekesselt und in eine „Gefangenensammelstelle“ in einer anderen Stadt geschafft. Gegen jegliches Recht wurden über viele Stunden die Eltern nicht darüber informiert, einer Rechtsanwältin gelang es erst in den Nachtstunden, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Anstatt die dafür Verantwortlichen zu belangen, wurden die Minderjährigen mit Strafverfahren überzogen.

Zu meinen politischen Erfahrungen gehört auch dies: Demokratie wird oft in einem Atemzug mit Menschenrechten genannt. Vornehmlich sind sie in Ländern gefährdet, die nicht der NATO angehören. Ich erinnere mich an die Zeit, in der wir, Menschen aus katholischen, gewerkschaftlichen und linken Jugendgruppen die Solidaritätsarbeit mit den Völkern des südlichen Afrikas begannen. Wir waren damals eine sehr kleine Minderheit, die den dortigen Rassismus thematisierte. Die Bundesregierung hatte beste Beziehungen zu Südafrika, Mandela galt als Terrorist und der ANC als Verbrecherorganisation. Mir zeigt das Beispiel Zweierlei: Es lohnt ein langer Atem bei politischem Engagement, wenn sich die Kräfte vernetzen. Und es gelingt der Propaganda immer wieder, sich Entwicklungen anzupassen. Mandela wurde der geschätzte Staatsmann, mit dem sich alle Welt schmücken wollte. Ein wenig erinnert das daran, wie die Vereinigten Staaten nach jedem noch so großen Verbrechen gefeiert werden als Musterdemokratie mit Selbstreinigungskräften.

Eine letzte Erinnerung, diesmal an einen 9. September. Und zwar den weitgehend in die Vergessenheit gedrängten Tag des Putsches in Chile 1973. An diesem Abend gab es ein großes Konzert mit chilenischen KünstlerInnen, die auf der Seite des gewählten Präsidenten Allende standen. Alle Anwesenden waren schockiert über die Information. Empörender als diese von der CIA maßgeblich unterstützte Militäraktion waren die ausbleibenden Reaktionen der Regierenden der westlichen Welt darauf. Es blieb der DDR und den anderen realsozialistischen Ländern vorbehalten, Proteste zu formulieren und den demokratischen Widerstand zu unterstützen. Der spätere Kanzlerkandidat der Union, Franz-Josef Strauß, schrieb damals, dass das Wort „Ordnung“ für die Chilenen wieder einen süßen Klang bekomme. Der CDU-Generalsekretär war der Meinung „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm“ und bezog sich damit auf die dort eingepferchten politischen Gefangenen.

Diese meine ganz persönliche Geschichte um den Begriff „Demokratie“ lehrt mich, misstrauisch zu sein, wenn ich ihn aus den Mündern der Mächtigen vernehme. Zugleich habe ich gelernt, wie wichtig es ist, Demokratie in der Praxis zu verteidigen. Diese Aufgabe kann einem niemand abnehmen. Gerade in Zeiten von Corona nicht.


Über den Autor

Dr. Artur Aschmoneit ist EDV-Experte, Historiker und Autor. In der Corona-Krise sammelt er unbeachtete Informationen auf seiner eigenen Plattform www.corodok.de

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