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Das Eigentor

Das Eigentor

In der Absicht, Russland zu schaden, demontiert sich die westliche Wertegemeinschaft selbst.

von Michael Ewert

In guter Absicht Schlechtes zu bewirken, kann man noch als einen netten Versuch werten. Umgekehrt gibt es, wie es in Goethes Faust heißt, Kräfte, die stets das Böse wollen und stets das Gute schaffen. Was soll man aber nun vom Verhalten der NATO-Länder halten? Das Böse zu wollen — nämlich Russland zu zerstören — und damit nicht einmal zu reüssieren, kann man nur noch als peinlich bezeichnen. Da wollte der Westen Russland mit seinen Sanktionen ausknocken — aber siehe da: Der Gegner steht noch. Durch Liebesentzug wollte man den globalen Rivalen weichkochen, doch Putins Riesenreich hat sich anderweitig getröstet. Mit China zum Beispiel, das Russlands Gas gern annimmt: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die den USA und ihren Verbündeten noch zu schaffen machen wird. Selbstüberschätzung, unangebrachter moralischer Furor und mangelnde strategische Klugheit könnten dem krisengeschüttelten Europa nun eine historisch einzigartige Talfahrt bescheren: wirtschaftlich, machtpolitisch wie auch „moralisch“.

Für Kritiker der westlichen Politik geht es nur am Rande um die Ukraine. Primäres Ziel sei, Russland zu schwächen oder gar „zu ruinieren“. Alles schien nach Plan zu laufen, als die russische Armee nach endlosen Brüskierungen, der Verweigerung von Gesprächen und dem verstärkten Beschuss des Donbass in die Ukraine einmarschierte.

Das Personal an der Sanktionsmaschinerie drehte völlig durch. Die Hetzpropaganda sowie die Ausfälle vermeintlich führender Politiker waren unüberhörbar von dem Eindruck geleitet, in gut zwei Wochen sei Russland auf Grund der Allmacht westlicher Weltenlenker finanziell, wirtschaftlich und politisch am Ende. Doch es kam anders. Welches Wunder eilte Russland zu Hilfe? Zur Schande des Westens war kein Wunder erforderlich. Es reichte die abgrundtiefe Dummheit westlicher Funktionsträger bei ihren strategischen Planungen.

1997 warnte Joseph Biden noch vor einer Ausweitung der Nato nach Osten: Sie würde Russland in die Arme Chinas treiben. Nach dem Maidan-Putsch und den der EU von Barack Obama wegen des Krim-Debakels aufgezwungenen Sanktionen hingegen hatten sich die strategischen Ziele ganz offensichtlich geändert. Im Oktober 2014 sah Biden „eine massive Kapitalflucht aus Russland, ein regelrechtes Einfrieren von ausländischen Direktinvestitionen, der Rubel auf einem historischen Tiefststand gegenüber dem Dollar, und die russische Wirtschaft an der Kippe zu einer Rezession“ (1).

2022 wähnte der Westen Russland erst recht an der Wand. Zur allgemeinen Überraschung befand sich aber hinter Russland erneut keine Wand. Hinter Russland war und ist China.

Auch taten sich unter Russland keine Abgründe auf, sondern nach wie vor immense Bodenschätze, auf die viele Länder, insbesondere im Westen, angewiesen sind. Als Moskau nach Sperrung seiner Auslandskonten seine begehrten Waren nicht umsonst liefern wollte und auf eine Bezahlung in Rubel bestand, protestierte der Westen: das sei eine Umgehung seiner Sanktionen! Kann man so sehen. Man kann aber auch von einem klassischen Eigentor sprechen. Wie dem auch sei — der Höhenflug der russischen Währung aufgrund von Rekordeinnahmen nahm zu, nachdem ein westliches Land nach dem anderen ein Konto bei der Bank eröffnete, deren Adresse ihm ins Heft diktiert wurde. Damit nicht genug.

Der Ausschluss Russlands vom SWIFT-Verfahren für den internationalen Zahlungsverkehr vollzog sich parallel zu bereits fortgeschrittenen Bestrebungen, zusammen mit China ein alternatives globales Finanzsystem zu entwickeln (2). Dieser Alternative auch zu den Ausbeutungs- und Erpressermethoden von Weltbank und Internationalem Währungsfond (IWF) stehen Länder mit etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung, vorsichtig ausgedrückt, aufgeschlossen gegenüber. Ein Alptraum nimmt Gestalt an.

Russland sollte auch geschwächt werden, damit es für China keine Stütze mehr darstellte. China ist der Hauptfeind der USA. Auch manche Kritiker der US-Politik nehmen oft an, dass China der US-Wirtschaftsmacht noch — weit — unterlegen ist. Wenn dem so wäre, fragt man sich, weshalb die USA so nervös sind.

Militärische Gründe können es nicht sein. Zudem hat China seit Hunderten von Jahren kein Land angegriffen. Ausschlaggebend für Kreise in den USA, einen Krieg mit China zu halluzinieren, sind simple ökonomische Realitäten. Sie verfehlt man mit Verweisen auf Vermögenswerte. Hier ist der Anteil der US-Gesellschaften in der Tat beeindruckend. Doch ihr Reichtum ist angewiesen auf wirtschaftliche Bilanzen, deren „Schönheit“ von Dienstleistungen, spekulativen Kabinettstückchen und Algorithmen abhängt. Aussagekräftiger sind sie in Zusammenhang mit sehr handgreiflichen Rohstoffen und ebenso gegenständlichen Tätigkeiten.

Der Vorteil eines Industriekapitalismus ohne einen parasitären Finanzsektor gegenüber der, wie es Michael Hudson nennt, Rentenökonomie ist es, der dem Westen Sorgenfalten in die Stirn treibt und China für die USA zu einer zentralen Bedrohung macht. Und jetzt zeichnet sich zu allem Überfluss noch ab, dass Russland keineswegs geschwächt aus der nach jahrelangen Provokationen des Westens ausgebrochenen Ukraine-Krise hervorgeht. Stattdessen wird die Lage des Westens immer prekärer.

Schon von der Finanzkrise 2008/9 hat sich die Blasenökonomie mit ihren Fantastilliarden an fiktiven Werten nie erholt. Im Herbst 2019 kam es, wie nicht nur der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze vermutete, zu einer Rettung in letzter Sekunde (3). In den darauf folgenden Monaten verhinderte die Federal Reserve (FED) mit fast vier Billionen US-Dollar eine Kernschmelze an der Wall Street. Insgesamt haben Staaten und Zentralbanken seit Beginn der „Krise“ in knapp zwei Jahren den weltweiten Geldkreislauf mit fast 20 Billionen aufgebläht. Dieser Krisensituation sollte mit einer Änderung der Zusammensetzung des Kapitals, der Rekonstruktion ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse und der Vertiefung gesellschaftlicher Abhängigkeiten begegnet werden. Doch der Erfolg der als Bekämpfung einer „Pandemie“ ausgegebenen Maßnahmen war mehr als zweifelhaft.

Ein Anflug von Realpolitik

Die Situation hoher Verschuldung, gestiegener Armut, dramatischer Inflation, insbesondere bei Lebensmittel- und Energiepreisen, wurde nun noch verschärft durch die sehenden Auges in Kauf genommenen Rückschläge einer Sanktionspolitik, als deren Antrieb nur die Rechthaberei eines rasenden Verstandes gesehen werden kann. Hinzu kommt das geopolitische Desaster der Annäherung eines keineswegs geschwächten Russlands an China. Alles in allem ein Bündel an Gründen, die Stimmung zum Kippen zu bringen.

Im März 2022 war die New York Times (NYT), wie ihr Editorial Board Mitte Mai einräumte, noch der Meinung, dass „egal, wie lange es dauert“, die Ukraine Unterstützung verdiene „gegen die unprovozierte Aggression Russlands“. Die USA müssten „ihre Nato-Verbündeten anführen, um Wladimir Putin zu zeigen, dass das atlantische Bündnis bereit und in der Lage ist, seinen revanchistischen Ambitionen zu widerstehen“. Dieses Ziel wolle man auch jetzt nicht aufgeben, „doch liegt es nicht in [US-] Amerikas Interesse, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte“ (4).

Abverlangt wird einiges auch von unseren Duracell-Marionetten. Annalena „Barbiebock“ geriet prompt in Panik und warnte vor „Kriegsmüdigkeit“. In Kiew ließen die moderaten Parolen der Wehrkraftzersetzung alle Sicherungen durchbrennen. Vermutlich sprach Henry Kissinger zeitgleich auf dem Davoser Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) ebenfalls von der Notwendigkeit territorialer Zugeständnisse an Russland, weil die Entwicklung der laufenden Ereignisse das begünstige, was aufzubrechen er für seine geostrategische Meisterleistung hält: eine Blockbildung Moskaus mit Peking. In völliger Ahnungslosigkeit, was die Uhr geschlagen hat, erklomm Wolodymyr Selenskij nach dem tränenreichen Auftritt in Butscha den nächsten Höhepunkt als Schmierendarsteller.

Er nannte den am 27. Mai 99 Jahre alt gewordenen Henry Kissinger „senil“ und wähnte ihn nicht in Davos 2022, sondern in München 1938, als die Zerschlagung der Tschechoslowakei ihren Anfang nahm. Jetzt solle die Ukraine „zerschlagen“ werden. Die einzige, aber interessante Parallele besteht darin, dass beide Male Moskau das Ziel der westlichen Politik war.

Entgegen einem Dauerschlager der Propaganda agierten die Westmächte 1938 nicht als „Beschwichtiger“. Ihnen ging es darum, das Dritte Reich als Machtfaktor inmitten Europas anzuerkennen. Bei einem Gespräch warnte der deutsche Nationalökonom Alfred Sohn-Rethel den englischen Abgeordneten Edward Grigg vor den deutschen Kriegsvorbereitungen und warb für einen Völkerbundvertrag, wie er vom Außenminister der UdSSR, Maxim Litwinow, unterstützt wurde. Grigg winkte ab: Es liefe wohl tatsächlich alles auf einen Krieg hinaus, was kein Drama sei, so lange „diese Entladung nach Osten geht und nicht nach Westen“ (5).

Iwan Maiski, in London zur Zarenzeit im Exil und später, 1932 bis 1943, als sowjetischer Botschafter, berichtete von der Aussichtslosigkeit aller — auch seiner — Vorschläge einer die Sowjetunion miteinbeziehenden Politik der kollektiven Sicherheit vor Nazi-Deutschland, vom Hass der führenden Kreise in Großbritannien auf sein Land, der Hoffnung, das Dritte Reich werde ihnen dieses Problem vom Hals schaffen, und der Farce der Verhandlungen, die sich mit Moskau bis August 1939 hinzogen (6).

Auch die USA waren von dem Abkommen angetan. Franklin Roosevelts Vertrauter Sumner Welles erläuterte in einer Radioansprache, dass sich mehr als jemals während der letzten zwei Jahrzehnte die Gelegenheit einer neuen Weltordnung auf der Basis von Gerechtigkeit und Gesetz böte (7). Heute ist die Rede von „regelbasierter Ordnung“, damals waren der Westen und Polen strikt gegen einen militärischen Beistand für die Tschechoslowakei, wozu einzig die Sowjetunion bereit, jedoch ohne eine gemeinsame Grenze mit der Tschechoslowakei auf eine Durchquerung ihrer Truppen durch polnisches Gebiet angewiesen war (8). Aber Selenskijs Assoziierung von Kissingers Mentalität mit dem Jahr 1938 ist aus einem viel unmittelbareren Grund kennzeichnend für die Verkommenheit des Kiewer Regimes.

Kissinger ist ein Kriegsverbrecher, keine Frage. Aber zuvor war er ein 1923 geborener jüdischer Deutscher, der mehr oder weniger im letzten Moment mit seiner Familie aus dem Dritten Reich „emigrieren“ konnte. Das war 1938, als Kissinger den Gesinnungsgenossen wesentlicher Stützen des Kiewer Regimes entkam. Der Vorwurf, der seinerzeitige Jugendliche sei auch nicht für ein Nachgeben gegenüber Gewalttätern eingetreten, möge als letztes Indiz dienen, welchen Possenreißer sich nicht minder schamlose Kreise im Westen als Galionsfigur auserkoren haben. Kissinger immerhin ist trotz seines hohen Alters, das zu erreichen ihm anders als Hunderttausenden seiner Opfer vergönnt war, weniger vergreist, gar „senil“, als die Mittäter einer Politik wider alle Vernunft (9).

In seinem Buch „Patriotismus. Ein linkes Plädoyer“ meinte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen“. Seine Anbiederung mit pseudovulgären Ausdrücken präzisierte er mit den Worten: „Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ Das merkt man. Nicht nur seine Orientierungspunkte liegen woanders.

Die Unfähigkeit zu selbstbewusstem Handeln

Die sicherheitspolitische Kehrtwende der Bundesregierung hin zu einer Militarisierung deutscher Außenpolitik fand nach den Worten Robert Habecks bei seinem Besuch in Washington Anfang März 2022 ein sehr positives Echo. Das lässt die Glückshormone des Dienstpersonals explodieren: „Je stärker Deutschland dient, umso größer ist seine Rolle“, fantasierte Habeck. Die „Bereitschaft, eine dienende Führungsrolle auszuüben“, werde in der US-Hauptstadt erfreut zur Kenntnis genommen. Die Hoffnung und Erwartung sei, dass mit der Bereitschaft zu höheren Militärausgaben und zu Waffenlieferungen in die Ukraine auch die Bereitschaft zu mehr Verantwortung innerhalb der Nato verbunden sei. „Und das ist ja auch der Plan“ (10). Diese Unterwerfungshaltung ist autoritären Charakteren, die nach Erich Fromm stets sowohl von sadistischen wie masochistischen Strebungen geprägt seien, wesentlich eigen.

2003, als Millionen Iraker schon in Folge der Embargos gestorben waren und weitere Millionen im bereits begonnenen Vernichtungskrieg folgen sollten, zerbrach sich der transatlantische Einflussagent Stefan Kornelius, Journalist und Ressortleiter Politik bei Süddeutsche Zeitung, nur über ein Problem den Kopf: „Wie kann zumindest ein Teil [der] übrigen Welt den (US-) amerikanischen Interessen dienen und damit wieder Einfluss auf Washington gewinnen?“ (11). Die Ergebenheit unselbständiger, haltloser Individuen ist kein Privileg pseudoaufgeklärter, demokratischer Verhältnisse.

Für den deutsch-britischen Journalisten Sebastian Haffner gab es 1933 in Nazi-Deutschland kein Recht mehr, sondern nur Vorgaben der Herrschaft, der alle Gesellschaftsorgane zu „dienen“ hätten — um etwas „Einfluss [zu] gewinnen“ (12). Das Recht wird zum bloßen Scheinen von Gerechtigkeit und ist von Terror nicht zu unterscheiden (13). Die Anpassung an die jeweiligen Modifikationen von Herrschaftsstrukturen verläuft wesentlich identisch in Gesellschaften, die von Klassenherrschaft, Konkurrenz, Warenproduktion, Profitmaximierung und Ausbeutung geprägt sind. In ihnen wäre der Herrschende nicht Herrschender, wenn es sich nicht lohnte, das ihm Nützliche zu beachten und gesetzestreu zu sein.

Der Opportunismus gegenüber der Autorität rationalisierte sich zu allen Zeiten in wohlklingenden Phrasen. Überall im Westen wurde das, was der US-amerikanische Journalist Chris Hedges als Boutiquen-Aktivismus bezeichnet, zu einer ideologischen Kampfform.

Verdrängt würden Klassenfragen, kapitalistische Produktionsweisen und Militarismus. Dominant seien stattdessen „Cancel-Kultur“, Multi-Kulti, Queer- und keine Querdenker sowie „Emanzipationen“ immer kleinerer Sparten, die eine Spiegelung der Zerfaserung gesellschaftlicher Zusammenhänge unter neoliberalen Bedingungen darstellt (14).

Fromm warnte schon in den 1960er-Jahren vor einer Emanzipation der Frau als einer Emanzipation zum bourgeoisen Mann. Es ist ein Etikettenschwindel, abzulesen an der Vertreterin einer „feministischen Außenpolitik“. Nach eigenem Bekunden steht sie nicht nur auf den Schultern einer Massenmörderin, für die der Tod einer halben Million irakischer Kinder „den Preis wert war“, sondern auch auf denen ihres Großvaters, der, so wörtlich, an der Oder die Freiheit verteidigt habe. 1945. Aus dieser Warte war es 2022 nur ein kleiner Schritt zur Grenze eines Belagerungsrings, dem bereits 14.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Das ist weniger als Madeleine Albright und die Armee ihres Großvaters aufweisen konnten, weshalb unsere oberste Feministin in der obszönen Aufmachung einer Kampfmontur inklusive Stahlhelm wie kurz zuvor ihr Vorstandskollege, den als Minister 100.000 Tote nicht zur Aufhebung des Transportverbots russischer Dünge- und Lebensmittel bewegen können, weitere Waffen für die Aggressoren forderte.

Nach Erscheinen des NYT-Artikels schnarrte sie, die „Belastungen des Krieges“ müssten „durchgehalten“ werden. Es sind aber nicht nur die Belastungen des Krieges, die zur unerträglichen Bürde werden. Potenziert werden sie durch den schon seit Jahren andauernden Krieg der Belastungen gegen die arbeitende Bevölkerung. Nunmehr ist dieser Feldzug dabei, mit den neoliberalen, grünen und „linken“ Glücksrittern an vorderster Front den Rubikon zu überschreiten. Im Gegensatz zu den Laufburschen und Blitzmädels des Imperiums könnten diejenigen, die das Heft in der Hand haben, die Zeichen der Zeit erkannt haben und versuchen zu retten, was zu retten ist.

Der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson meinte, Deutschland sei die korrupteste von allen US-Marionetten, am leichtesten um den Finger zu wickeln. Entsprechend sucht die Kontrolle abweichender Meinungen ihresgleichen in der zivilisierten Welt und muss sich in der Liste der Pressefreiheit noch von Namibia geschlagen geben. Insbesondere nach dem 11. September 2001, der Despotie des Corona-Regimes und dem Aufbrechen ganz offenbar tief verwurzelter Hassgefühle gegen Russland werden die Indoktrinationen mit einem Nachdruck durchgeführt, der an die Willkür der NS-Praktiken aufgrund des 1934 zur Bekämpfung politischer Gegner eingeführten „Heimtückegesetzes“ erinnert.

Eingeengt durch die Perspektive eines Kaleidoskopes bunter Einzelstücke und der Scheuklappen plakativer Gesinnungsrhetorik stellen die Rückschläge der eigenen Politik kein Problem dar. Der Anführer des Mobs freilich steht vor größeren Anforderungen, als gebückt Vorgaben hinterherzuhecheln. Er weiß, dass es zum Jammern zu spät ist und keine Ausreden mehr gelten, wenn alles den Bach runtergeht — was einzutreten droht.

Zum einen ist eine Schwächung Russlands nicht zu erkennen, was die Position Chinas stärken würde: Man hat ihm auf dem Silbertablett die definitive Annäherung eines von Europa auf lange Zeit entfremdeten Bündnispartners präsentiert. Zum anderen sind die Auswirkungen der mit herrischer Geste verhängten Sanktionen in der gesamten Welt spürbar, auch, und da hört der Spaß auf, in den westlichen Industriestaaten.

Alle Tendenzen, die sich schon während des „Corona“-Wahnsinns abzeichneten, haben sich noch einmal verstärkt: ein riesiger Schuldenberg, dramatisch steigende Inflation in Verbindung mit praktisch nicht existentem, ja rückläufigem Wirtschaftswachstum führten zu einem Sinken der Reallöhne.

Das ist der Grund, aus dem die New York Times, die alle US-Massaker mindestens der letzten 33 Jahre mit Zustimmung begleitete, Putin zwar pflichtbewusst als „Schlächter“ bezeichnete, aber kühl kalkulierend dazu aufrief, „die Euphorie (sic!) abzuschütteln, die Verhöhnung zu beenden und sich auf die Definition und Vollendung der Mission zu konzentrieren“.

Offenbar gilt die „Mission“ als gefährdet, wenn die geopolitische Strategie nicht aufgehen und zudem die Bevölkerung zu Hause und in den Protektoraten beginnen würde, sich Fragen zu stellen. Damit drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen. Offenbar steht die Wahrscheinlichkeit im Raum, dass die Tage nicht der Ukraine, aber einer Ukraine, wie sie zum Pulverfass für die ganze Welt wurde und wir sie kennen, gezählt sind. Die jahrzehntelange Strategie des Westens, Russland zu brüskieren, hat sich als Sackgasse erwiesen. Es ist nicht vorstellbar, dass sich Moskau noch darauf einlassen wird, nicht Nägel mit Köpfen zu machen. Der Krieg dürfte so lange weitergehen, bis ein Kompromiss nur noch darin besteht, in welchen Gebieten ein Referendum mit welchen Optionen durchzuführen Moskau „zugestanden“ wird. Aber auch an den USA, so wohl die Befürchtung der NYT und anderer nüchterner Beobachter, werden die Folgen dieses Krieges nicht spurlos vorübergehen.

In Plänen wird bereits ein Krieg mit China durchgespielt. Sollte es dazu kommen, meinte der US-amerikanische Politologe, CIA-Berater und Asienexperte Chalmers Johnson schon vor Jahren lakonisch, wäre es das Ende der USA. Schon jetzt sind sie mit ihrem Pentagon-System der seit ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg permanenten Kriegswirtschaft, einer verrotteten Infrastruktur, verarmten Bevölkerung mit 17 Millionen Kindern, die nicht genug zu essen haben, desaströsen Drogenproblemen mit mehr als 100.000 Toten jährlich, unzureichender Gesundheitsvorsorge samt den höchsten Kosten und dem von allen Industriestaaten schlechtesten Gesundheitszustand der Bevölkerung eine Parodie auf zivilisatorische, humanistische Standards.

Und wir? Wo bleiben wir? William Shakespeare ließ seinen Cassius über Caesar klagen:

„Und wir kleinen Leute,/
Wir wandeln unter seinen Riesenbeinen,/
Und schau’n umher nach einem schnöden Grab.“

(Julius Cäsar, 1. Akt, 2. Szene)

Was ist, wenn die „Riesenbeine“ wegknicken und die Obszönität unserer kleinen „Diener“ und Grünschnäbel, die sich ihre „schnöden Gräber“ selber schaufeln mögen, nicht einmal als Farce zum Lachen taugt? Wir sollten uns rechtzeitig umorientieren — und nicht auf Hilfestellungen des Imperators via Pressemitteilungen warten. Sie wären nur ein schwacher Ersatz für die Maximen der Aufklärung, Mut zum Gebrauch des eigenen Verstandes und das Streben hin zu selbstbewusstem Handeln. Sie sind durch nichts zu ersetzen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) zitiert nach Wolfgang Bittner, Das Ziel ist ein Regime Change in Moskau, NachDenkSeiten, 26. Mai 2022 https://www.nachdenkseiten.de/?p=84196#more-84196
(2) siehe nur Pepe Escobar: On the Dawn of a New Global Financial System. Pepe Escobar interviews the Eurasia Economic Union’s Sergey Glazyev, a man in the eye of our current geopolitical and geo-economic hurricane, Consortiumnews, 15. April 2022 https://consortiumnews.com/2022/04/15/pepe-escobar-on-the-dawn-of-a-new-global-financial-system/
(3) siehe Marc von Lüpke und Florian Harms, Interview mit Tooze, „Es war wahrscheinlich Rettung in letzter Sekunde“, t-online, 14. September 2021 https://www.t-online.de/nachrichten/wissen/geschichte/id_90690270/drohender-corona-crash-experte-war-wahrscheinlich-rettung-in-letzter-sekunde-.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
(4) BLZ/horn, Neue Haltung zur Ukraine: New York Times klingt plötzlich wie Sahra Wagenknecht. Die einflussreichste Zeitung der Welt fordert den US-Präsidenten auf, Selenskyj Grenzen aufzuzeigen. Krieg mit Russland sei nicht in Amerikas Interesse, Berliner Zeitung, 20. Mai 2022 https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/neue-haltung-zur-ukraine-new-york-times-klingt-ploetzlich-wie-sahra-wagenknecht-li.229127
(5) „Einige Unterbrechungen waren wirklich unnötig“. Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel, in: Mathias Greffrath (Hg.), Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Frankfurt am Main/ New York 1989, 243
(6) siehe Gabriel Gorodetsky (Hg.), Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943, München 2016, etwa 99ff, 334ff oder auch 421ff
(7) siehe David Schmitz, Thank God they’re on our Side. The United States and Right-wing Dictatorships, 1921-1965, Chapel Hill/ London 1999, 122
(8) siehe Gorodetsky, Un autre récit des accords de Munich, LE MONDE diplomatique Octobre 2018
(9) siehe nur The Jimmy Dore Show, Even Henry Kissinger Knows The Ukraine Cant’t Win — w/Chris Hedges, TheJimmyDoreShow 26. Mai 2022 https://www.youtube.com/watch?v=GNcTZR8P8EY&t=9s
(10) siehe Besuch in den USA. Habeck sieht Deutschland in einer „dienenden Führungsrolle“, focus, 2. März 2022 https://www.focus.de/politik/deutschland/besuch-in-den-usa-habeck-sieht-deutschland-in-einer-dienenden-fuehrungsrolle_id_61552626.html
(11) Kornelius, [US-] Amerikas Sieg, [US-] Amerikas Pflicht, 12./ 13. April 2003; ähnlich Joffe, Der Marsch auf Bagdad; ders., Der Realitäts-Schock. Europa und [US-] Amerika: Nach der Kraftprobe die Ernüchterung; Bernd Ulrich, Das hilflose Europa, Die Zeit, 20. März, 3. beziehungsweise 10. April 2003
(12) siehe Haffner, Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart/ München 2000, 175ff
(13) siehe Platon, Politeia, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 2, Reinbek 1994, 222ff
(14) siehe Chris Hedges, No Way Out But War, Consortiumnews, 24. Mai 2022 https://consortiumn


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1 Kommentar

  1. Grossartig dieser Text von Michael Ewert und er schreibt:

    „Welches Wunder eilte Russland zu Hilfe? Zur Schande des Westens war kein Wunder erforderlich. Es reichte die abgrundtiefe Dummheit westlicher Funktionsträger bei ihren strategischen Planungen.“

    Vorraussetzung dabei ist natuerlich die Faehigkeit zur strategischen Planung in der russischen Foederation. Das sollten wir dabei nie weglassen. An den Personen Dmitri Medwedew und Sergey Glazyev koennen wir das ebenso gut sehen.

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