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Das Mitläufer-Syndrom

Das Mitläufer-Syndrom
Foto: Render3dts/shutterstock.com

Aus Angst vor der entfesselten Macht des Staates redet
sich die Mehrheit der Bürger verzweifelt ein, dass es bei den Corona-Maßnahmen mit rechten Dingen zugeht.


von Julia Weiss


„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ heißt ein Romanzyklus von Marcel Proust. Heute sind wir auf der Suche nach dem verlorenen Verstand. Nicht nur scheinen die Regierenden verrückt zu spielen – fast noch erstaunlicher ist die Duldsamkeit, mit der wir Bürger uns unsere Freiheit und das Leben, das wir zuvor geführt haben, mir nichts, dir nichts wegnehmen lassen. Viele kämpfen tapfer – allerdings nur gegen die wenigen Zweifler, die das Ganze noch zu hinterfragen versuchen. Intellekt ist nicht einmal besonders hilfreich dabei, die oft haarsträubenden herrschenden Corona-Narrative zu durchschauen – kluge Menschen reden sich ihre Feigheit nur auf subtilere Weise schön. Und auch in ihrem Stolz fühlen sich die meisten durch die fortgesetzte Entwürdigung seitens „ihrer“ Obrigkeit offenbar nicht verletzt. Es wirkt fast so, als hätten sie gar keinen. Die Autorin versucht, dem Rätsel des verlorenen Widerstandsgeists auf die Spur zu kommen. Und sie gibt eine ebenso simple wie erschreckende Antwort.

1. Die große Frage

Was mich und viele andere mehr noch als die Einführung des permanenten Ausnahmezustands und die feindliche Machtübernahme durch das Personal global agierender Institutionen schockiert, sind die Mitmenschen, die diese dramatischen Veränderungen ihres Alltags nahezu klaglos hinnehmen. Sie akzeptieren nie dagewesene Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Bewegungsfreiheit, ihre Familien. Sie lassen zu, dass Schutzbefohlene, Alte und Kinder, gequält werden; schweigend dulden sie die drastische Veränderung ihres Arbeitslebens ebenso wie die wüste Beschneidung ihrer Vergnügen und Erholungsmöglichkeiten. Brav gehorchen sie all diesen Gängelungen, und mehr noch: Oft genug verteidigen sie diese „Maßnahmen“ aggressiv gegen Mitmenschen, die sich das nicht gefallen lassen wollen.

Handeln sie so aus Angst? Wenn ja, wovor? Immer wieder meint man, den Gehorsamen mit schlichter Aufklärung die Unterwerfung ausreden zu können: Diese und diese Zahlen müssen sie doch endgültig von der Ungefährlichkeit der Lage und der Sinnlosigkeit der „Maßnahmen“ überzeugen! Wenn bereits bei 50 positiv Getesteten von 100.000 eine Region zum Risikogebiet erklärt wird – womit drastische Einschränkungen des Grundrechts auf Freiheit der Person und elementarer EU-Rechte einhergehen – und man darauf aufmerksam macht, dass diese 50 „Positiven“ nur popelige 0,05 Prozent der Bezugsgröße betragen, die meisten von ihnen nicht mal Krankheitssymptome haben und dass das alles überhaupt nichts mit dem einzig soliden Maß für die Gefährlichkeit einer Krankheit, nämlich ihrer Tödlichkeit, zu tun hat, dann – ja, dann hat man wider Erwarten nichts, aber auch gar nichts erreicht.

Sprachlos erlebt man zum x-ten Mal die völlige Wirkungslosigkeit faktischer beziehungsweise logischer Argumente bei denen, die treu der Regierungslinie und den Mainstream-Medien folgen. Diese Mehrheit, zu der auch weite Teile der ehemals regierungskritischen „Zivilgesellschaft“ gehören, diskutiert nicht über Zahlen und Statistiken, über Nachweise, Belege, Theorien, Argumente, nein: Ihre Mitglieder weigern sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie lehnen es ab, die Fachleute und Journalisten, die diese Argumente vorbringen, auch nur anzuhören. Stattdessen beleidigen sie Kritiker der Maßnahmen, ob nun Freunde oder ausgewiesene Experten, mit denselben Beschimpfungen und Diffamierungen, die sie in den Medien wieder und wieder gehört haben, und damit beenden sie das Gespräch, wenn nicht den Kontakt.

Diese Menschen erwarten auch von den Regierenden keinerlei Konsistenz: Von einer Regierungschefin, die erst „A“ als Begründung für massive Freiheitseinschränkungen angibt und – sobald „A“ entfallen ist – „B“ als völlig andere Begründung für die Fortsetzung derselben Einschränkungen ins Feld führt, hätte sich doch jeder denkende Mensch bereits ziemlich am Anfang der „Corona-Krise“ beleidigt fühlen müssen. So war es aber nicht, und so ist es auch nicht. Ob bedrohlich mit der Zahl der Toten oder, wenn diese ausbleiben, mit den „Neuinfizierten“ gewedelt wird, ob „Neuinfizierte“ erkranken oder gesund bleiben, ansteckend sind oder nicht – dem Publikum ist das alles vollkommen wurscht; es ist ihm mithin vollkommen einerlei, ob man an diesem Virus stirbt oder sich trotz positiven Tests bester Gesundheit erfreut.

Wie kann das sein? Konnte man nicht vor Corona mit Freunden und Familienmitgliedern diskutieren? Haben nicht viele, die man kennt, eine akademische Ausbildung, manchmal sogar eine besonders lange und sorgfältige, sind also promoviert oder habilitiert? Darf man bei ihnen nicht eine überdurchschnittliche Schulung in und daher Aufgeschlossenheit gegenüber logischer, zahlenbasierter Argumentation vermuten? Und besaßen sie nicht beispielsweise früher die Fähigkeit, zwischen Einzelfall und statistischer Erhebung zu unterscheiden? Haben sie in der Schule nicht auch mal das Grundgesetz durchgenommen?

Ganz offensichtlich hat der Grad der Ausbildung – jedenfalls in Corona-Zeiten – mit der Überzeugungskraft rationaler Argumentation nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das heißt natürlich auch umgekehrt – und das kann man auf den großen Anti-Corona-Demonstrationen gut beobachten –, auch der Widerstand ist nicht vom Grad der Bildung abhängig. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, oft Menschen, die noch nie auf einer Demonstration waren, sind so empört über die demütigenden Maßnahmen, dass sie zum ersten Mal im Leben auf die Straße gehen. Ich vermute, dass es ihnen so geht wie mir. Sie denken nicht: „Oh, ich habe gelesen, dass meine Menschenwürde angetastet ist!“ – sie fühlen es mit jeder Nötigung zum Aufsetzen der Maske, sie leiden an den entwürdigten Schafsgesichtern, die ihnen entgegenkommen, sie spüren es mit jeder Zelle ihres Körpers inklusive Gehirn: Wir werden erniedrigt. Nicht so die Mitläufer. Wo bitte lassen die solche Gefühle?

Manchmal beschleicht mich sogar der Verdacht, dass die Angepasstheit mit dem Grad der Bildung steigt. Können sich Gebildetere ihre inneren Widerstände vielleicht einfach geübter weggrübeln? Hat ihr Bedürfnis nach körperlicher und geistiger Freiheit und menschlicher Nähe dank besonders langen Leids in Schulräumen und Hörsälen dauerhaften Schaden genommen?

Wie auch immer: Die gängige Erklärung für diese Lähmung des Verstandes ist: Das Virus ist der neue innere Feind, mit dem die Eliten Herrschaft durch Angst in neuer Verkleidung ausüben. Die Menschen werden zu Untertanen, weil sie Angst haben vor Sterben und Tod.

Genau das aber glaube ich nicht. Über ein gewisses Vertrauen in die eigene Wahrnehmung hinaus – „Wie viele schwer Erkrankte und Tote kenne ich eigentlich persönlich?“ – wäre doch der probateste Weg, sich die Angst zu nehmen und sich zu beruhigen, den kritischen Stimmen zu lauschen und – sofern man deren Argumente überzeugend findet – wieder ohne Angst vor dem „Killervirus“ durchs Leben zu gehen. Genau das passiert aber nicht.

Ich glaube auch nicht, dass die massive Virus-Angstmache der Medien die Ursache des umfassenden Mitläufertums ist, auch wenn die Einheitsfront-Propaganda in Sachen Corona ja wirklich beispiellos ist. Trotzdem weiß jeder – und wirklich jeder –, dass massive Kritik an der offiziellen Einschätzung der Gefährlichkeit des Virus und damit der Angemessenheit der Maßnahmen existiert. Auch weiß jeder, wo er die finden kann; schließlich werden diese Quellen von den Mainstream-Medien ja pausenlos an den Pranger gestellt. Das alles wird von der Mehrheit aber ganz bewusst nicht zur Kenntnis genommen. Die Mainstream-Gläubigen sind daher auch nicht arme Verführte; sie haben eine bewusste Entscheidung getroffen, für die offizielle Propaganda-Linie, gegen die kritischen Stimmen. Warum?

Das ist das erklärungsbedürftige Phänomen: Warum sind Argumente, Zahlen, nüchterne Tatsachen für die Mehrheit völlig irrelevant für ihre Haltung in Sachen Corona? Wieso spielt Bildung offensichtlich keine Rolle bei den Regierungstreuen? Warum sind Diskussionen an sich schon indiskutabel? Warum setzt bei der Mehrheit der Verstand aus?

2. Meine Antwort

Die Wenigsten haben wirklich Angst vor dem Virus. Aber alle haben große Angst vor der plötzlich entfesselten Macht des Staats.

Die Mainstream-Medien haben in Sachen Corona eine Atmosphäre von Wahrheit und Lüge, von Schwarz und Weiß, von Freund und Feind hergestellt und verfolgen die Aushebung dieses Grabens mit enormer Gründlichkeit und Beharrlichkeit: Wer alles mitmacht, Maske trägt, Abstand hält, alle Begründungen glaubt, alle Einschränkungen akzeptiert, gehört zur Gemeinschaft der Vernünftigen, der Rücksichtsvollen, der Sauberen, der geistig und seelisch Gesunden. Wer nicht so ohne Weiteres gehorcht, gefährdet mit seinem Ungehorsam die Gemeinschaft, ist daher unsolidarisch, unhygienisch, geistesgestört („Verschwörungstheoretiker“, „Aluhut“), überdurchschnittlich dumm („Covidiot“, „Impfgegner“), Verfassungsfeind („Reichsbürger“, „Rechtsextremist“, „Antisemit, „Nazi“) – kurz: ein zutiefst unmoralisches Wesen. Es ist wie im Krieg: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Der zunächst fiktive Graben enthält offensichtlich eine massive Drohung; das zeigen uns schon mal die Werkzeuge. Ob einer dem offiziellen Narrativ wirklich glaubt oder nicht, ist ganz gleichgültig, aber die Drohung ist real, die ist keine Glaubensfrage. Sie besteht vor allem darin, von den Mächtigen verhöhnt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, wenn man nicht zustimmt und gehorcht. Allein das, vermute ich, ist das Schlimmste, was sozialen Tieren wie uns Menschen passieren kann. Wie man weiß, bedeutet allein schon ein solches „seelisches“ Ausgestoßenwerden nicht selten den Tod für das Individuum. Unterstützt wird die Androhung der sozialen Vernichtung durch die der materiellen – siehe den Fußballer, der wegen Teilnahme an einer Grundrechte-Demo fristlos entlassen wurde.

Um die Angst zu kaschieren, für die man sich schämt, versucht der Eingeschüchterte mit allen Mitteln, sich vom offiziellen Narrativ zu überzeugen. Das gelingt ihm, indem er Widersprüche und Widersprechende einfach nicht zur Kenntnis nimmt und vorsorglich in die Beschimpfungen einstimmt.

Meine vorläufige Antwort auf die Ausgangsfrage lautet also: Niemand hat den Verstand verloren; es gibt aber historische Situationen, in denen die Eliten so bedrohlich werden, dass der Verstand dem Überlebensinstinkt bedingungslos untergeordnet wird. Die plötzliche Ermächtigung durch das Außerkraftsetzen elementarer Rechte zum Schutz des Einzelnen vor dem Staat bringt die Mehrheit dazu, eng an die Seite eben dieses Staats zu rücken und aus wohlverstandenem Eigeninteresse auf viele Freiheiten – nicht zuletzt die, den eigenen Verstand zu betätigen – zu verzichten.

Diese Menschen verhalten sich so, wie das ein bedrohtes Kind auch tun würde: In Gefahr sucht es sofort die Nähe und damit den Schutz des Erwachsenen. Dass derselbe Erwachsene auch der Bedrohende sein kann, wissen wir aus Erfahrung: Eltern beschützen, bedrohen und bestrafen ihre Kinder bekanntlich in Personalunion.

Kurzum: Nicht die Angst vor Krankheit und Tod, auch nicht in erster Linie Dummheit und Gutgläubigkeit erklären das plötzliche Mitläufertum der großen Mehrheit; es ist die Angst vor der entfesselten Macht der Eliten.


Julia Weiss ist so alt wie die Bundesrepublik, gelernte Berlinerin, studierte Ökonomin, gewesene Texterin und ehemalige Attac-Aktive. Sie hat eine Tochter, einen Sohn, einen Enkel und einen Garten.


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Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Der Text erschien zuerst auf der Website Rubikon:
https://www.rubikon.news/artikel/das-mitlaufer-syndrom

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