Ich erinnere mich – von George B. Miller
… nicht oft (und schon gar nicht chronologisch), aber wenn, dann gern … an die Zeiten im Nebel auf der Leiter nach oben, die ich immer erst später richtig genießen konnte, wenn die Sicht klarer wurde.
Ein ganz normaler Wochenteiler im Sommer 1997 im antiquierten Proberaum. Wir lockerten uns auf mit unserem Publikums-Hit „Love the one youʼre with“ (wenn du nicht mit demjenigen zusammen sein kannst, den du liebst, liebe den, mit der du zusammen bist), und ich weiß noch genau, wie sehr wir uns damals daran orientierten. In den Pausen an diesem Mittwoch palaverten wir heiter über Werder Bremen, ein bisschen weniger scherzend darüber, was wir in drei Wochen auf dem Abtanzball eingeknickter Ballerinen spielen wollten und nebenher über die aktuelle Vogelgrippe. Da mich zu dem Zeitpunkt weder das eine noch das andere Thema wirklich tangierte – unsere Programmliste fürs kommende Konzert ließ ich gern die sieben Kollegen diskutieren, am Ende des Tages musste ich es sowieso für alle zu Papier bringen – steckte ich mir eine Lucky zwischen die Lippen und nahm heimlich mein Hörgerät aus dem Ohr. Nach dem Fleiß der Preis, leckere Absacker, und wir pfiffen drauf, dass schon mal nonchalant die identisch aussehenden Gläser versehentlich verwechselt wurden. Zum Abschied männliche Handshakes und heldenhafte Umarmungen.
Zwölf Jahre später sitze ich eines Abends mit einer deftigen Erkältung hustend und niesend vor der Glotze und schaue sorgenvoll die Nachrichten. Die Schweinegrippe ist ausgebrochen und hat in Großbritannien bereits 180 Todesopfer gefordert. Höchste Warnstufe. Ich vergleiche die Symptome mit meinen, bekomme eine piekende Panikattacke und spreche aufgeregt mit meiner Partnerin darüber, was ich sonst nur höchst selten tue. „Geh zum Arzt!“ sagt sie. Okay, aber zu welchem? Ich habe seit 15 Jahren keinen mehr konsultiert. Immerhin soll es ja jemand sein, dem ich mein grenzenloses Vertrauen schenken kann. „Der Virus kommt von allein und er geht von allein,“ erklärt mir der Doc. Meine Sorgenfalten bezüglich der Todesrate wischt er weg mit: „Nicht ihre Altersgruppe.“ Beruhigt, wie nach dem Besuch beim Steuerberater, der mir gerade meine Krampfadern vom Fiskus weggerechnet hat, gehe ich beschwingt nach Hause, um mit anderen Augen fernzusehen. Wenn ich da etwas falsch verstanden haben soll, brauche ich ein zweites Hörgerät. Das besitze ich inzwischen, und siehe da, ich höre jetzt besser, verstehe allerdings nicht unbedingt mehr. Was ist los? Jetzt, weitere 13 Jahre später, verbreitet die Covid-19-Erkrankung Angst und Schrecken. Na gut, sie selbst ja weniger. Es ist der Hype durch die Medien, der Lockdown durch die Politiker, die Warnungen der Virologen und verwirrenden Statements anderer Experten. Wat mutt, dat mutt. Dieser Virus hat nochmal draufgelegt, sagen sie. Noch dichter an mir dran als alles was vorher war, auch wenn ich gegen alles was vorher war geimpft wurde. Ich bin Raucher, habe aber von 40 auf 10 pro Tag reduziert, seitdem ich meine Signale nur noch vom Balkon sende und nicht mehr aus der Wohnung. Trotz dieser zusätzlichen Bewegungseinheiten habe ich Übergewicht (sagt wer?), und mein Alter drückt mich ebenfalls gnadenlos in die Risikogruppe. Symptome, wie hohes Fieber und Fressunlust? Nein, ich nicht, noch nicht (toi toi toi). Atemprobleme, pfeifende Bronchien nur beim Erklimmen der Stufen im Treppenhaus. Mattigkeit verwundert mich dann und wann bereits seit geraumer Zeit.
In diesen zweifelsvollen Tagen verfolge ich nun mit Genuss den kerosinfreien Himmel, der es mit herrlichem Blau dankt, erfreue mich an fahrradfreundlichen Umständen durch dünnes Verkehrsaufkommen, liebe den ungestörten Blick auf die von picknickenden Pappenheimern befreiten Grünflächen und entspanne mich mutterseelenallein einmal in der Woche an heftigem, unseriösem Bedienen meiner Felle hinter verschlossenen Türen. Endlich mal wieder beschleunigen, entschleunigen, Paradiddles, Triolen, den „wann hatʼs zum letzten Mal geregnet“-Allstars Shuffle, Blackbeats, Macbeats und Offbeats. Erst ist es noch so mies getrommelt, dass es mir stracks die Tränen in die Ohren treibt. Dann wird es besser und besser, getupft, pietätlos aber taktisch wirsch, flüssig poussierend und ziemlich ungereimt speiend. Egal, es ist dieser Moment aufs Blaue mitten ins Schwarze, wenn du checkst, du brauchst nur was Süßes damit das Saure verschwindet.
In meinen selbst festgelegten Pausen kann ich lauthals stubenunreine Witze loslassen, ohne dass man am Nebentisch empört mithört, weil alle Restaurants geschlossen sind. Was immer noch erquickender ist als am Singletisch direkt neben der Toilette sitzen zu müssen, nur weil ich Esslokale bevorzuge, in denen der Koch noch weiß was er tut und die Bedienung die Kundschaft nicht als störend empfindet. Ich muss im Kino auch kein strenges Publikum mehr ertragen, das kein Gequatsche duldet, weil die Lichtspielhäuser ebenfalls geschlossen sind.
Da ist so unendlich viel Positives im Negativen dieser momentanen Situation, dass ich mich frage, musste es erst soweit kommen? Endlich werden auch mal die antiquierten Begriffe wie „Tschüss“ oder „Ciao“ oder „Moin“ ersetzt durch „bleibt gesund!“ oder „bleibt zuhause!“. Ich erweitere um einen, „bleibt munter!“. Zugegeben, neu und von mir ist er nicht. Bandkollege Josch bietet ihn schon seit 30 Jahren an. Darum geht es aber doch letztlich, nee? Wenn alles vorbei ist, dann soll nichts mehr so sein, wie es mal war? Na und? Jeder Morgen, jeder neue Tag ist anders als der vorherige. Das Leben irrt sich nie, das weiß man doch, egal wie viel Abstand man hält.