Ich erinnere mich nicht mehr
… jemals solch eine Zeit mitgemacht zu haben
von George B. Miller
Die mittelalte Frau steht im Supermarkt am Käseregal direkt hinter mir, fast auf Tuchfühlung. Früher fand ich das spannend. Heute fühle ich mich beobachtet, drehe mich um und frage ganz vorsichtig: „Hallo? Gehts noch? Erinnern Sie sich bitte mit mir, mindestens 1,5m Abstand sind vorgeschrieben?“ „Herrgott nochmal,“, giftet sie, „Sie stehen hier jetzt schon seit Stunden.“ Zugegeben, zwei lange Masken-Minuten sind es ganz sicher, weil dieser Markt nicht besonders gut sortiert ist. Meine preiswerte Lesebrille verlangt eben nur nach dem richtigen Abstand zwischen Auge und Objekt. Zudem checke ich gern das Ablaufdatum, wenngleich das bei Camembert eigentlich für mich keine große Rolle spielt. Solange ich den Käse nämlich noch riechen kann, bin ich nicht infiziert. Niesen und husten muss ich ja schon, wenn ich morgens um 10 Uhr barfuß in Sandalen auf dem Balkon meine erste Zigarette inhaliere. Okay, keine Reibereien, ganz besonders in diesen distanzierten Zeiten nicht, in denen verbale Freundlichkeiten im Handumdrehen in Feindseligkeit umschlägt, ohne wirklich zu wissen warum.
Der Versuch, mich schnell eine Abteilung weiterzuschieben misslingt, da zwei Herren den Weg mit ihren Einkaufsfahrzeugen versperren. Weshalb das gestikulierende Palaver über aktuell 4.000 Neuinfektionen, die 2. Welle und einen wahrscheinlich bevorstehenden erneuten Lockdown genau hier stattfinden muss leuchtet mir ein. Zuhause hat man von dem Thema die Maske gestrichen voll. Diese zwei Wagen nebeneinander ergeben allerdings den geforderten Abstand, also alles bestens. Ich komme zwar nicht durch, der enge Gang lässt das nicht zu, respektiere aber schweigend die Erforderlichkeit ihrer Diskussion. Ich werde niemanden manipulieren.
Über Umwege endlich an der Kasse, ziehe ich meine Bankkarte. Man sieht es gern, wenn ich nicht bar zahle. Es funktioniert nicht. Karte raus, wieder rein, neu eingeben. Wieder nichts. „Haben Sie Bargeld dabei?“, fragt mich die unmaskierte, aber freundliche Kassiererin durch ihre riesige Plastikwand. Ich verneine, werde verlegen, weil ich mich plötzlich in der Situation sehe, meinen Einkauf zurücklassen, zur Bank fahren zu müssen, um mich mit einem funktionierenden Zahlungsmittel zu versorgen. Derweil hat sich die Schlange an der Kasse hinter mir verdreifacht. Ich spüre zunehmend genervtes Hufscharren mit dem bitteren Klang unterdrückter Aggression. Dann das Signal. Zitternd gibt mein Finger den Code ein. „Bitte bestätigen!“ Puuh, gerade nochmal gutgegangen. Ziemlich schwer atmend verlasse ich den Markt. Wie gut, dass meine Stadt kein Hotspot mehr ist, obwohl ich aktuell aus einem Situationsbericht des RKI im TV gelernt habe: Das wahre Problem sei nicht der Hotspot, sondern dass niemand wisse, woher die Infektionen außerhalb des jeweiligen gefährdeten Gebietes kämen. Was genau sagt mir das? Nichts, außer der Tatsache, dass einmal mehr niemand etwas weiß.
Menschen stecken sich also so gut wie überall an, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen, religiösen Veranstaltungen, Feiern, Gemeinschaftseinrichtungen. Als provinzialer Musiker, unglücklicherweise kein systemrelevanter, habe ich sofort meine Band und unsere Proben im Kopf. Klar, bevor sie losgingen, hatte jeder eine eigene Meinung. Wir einigten uns auf eine, allerdings ohne je so meinungsverunsichert zu sein wie in diesen Tagen. Nach dreißig gemeinschaftlichen Jahren sind wir immer noch jung, und doch alt genug, um zur Risikogruppe zu gehören. Welche Risikogruppe? Kinder, Jugendliche, Greise? Wir schützen uns jedenfalls mit erheblichem und kostspieligem Aufwand einerseits respektvoll erst einmal gegenseitig. Andererseits, um keinesfalls Opfer irgendwelcher Missgunst zu werden. Man könnte uns anschwärzen. Das würde eine nicht unbeträchtliche Summe als Strafe zur Folge haben. Kann es wirklich passieren, dass man so schnell vom Gönner zum Neider wird, nur durch dieses unselige Szenario? Wir wissen es nicht, so wie wir im Grunde alle gar nichts wissen.
Kurz bevor die Kollegen erscheinen, schlurfe ich gedankenverloren über die ausgelegten Teppiche, die wir sonst nur für große Bühnen nutzen. Wehmütig an vergangene Konzerte denkend, die unzähligen Menschen und uns einst so viel Freude bereiteten und reflektiere betreten die Stille, die über uns alle verhängt wurde. Frustrierendes Warten, endlich mal wieder auf die Bretter vor ein volles Haus treten zu dürfen. Den Kneipengängern oder Besuchern von Restaurants, ich zähle hin und wieder dazu, fehlt die Atmosphäre, das gewohnte Ambiente, um mal wieder richtig rauslassen, oder genießen zu können. Ich höre empörte Stimmen quäken:“ Was willst du eigentlich? Hauptsache ist doch, es schmeckt und der Service stimmt.“ Wenn es nur um den Geschmack geht, dann kann ich meinen Wein zum Zigeunerschnitzel (ups, darf man ja nicht mehr sagen, also gut, Schnitzel mit feuriger Soße) im Diy – Verfahren auch zuhause vor der Glotze verzehren.
Wie läuft das denn nun beim Maskenball im kulinarischen Etablissement? Maske auf und rein, dann setzen, und wieder absetzen. Versprühe ich lachend und redend im Sitzen weniger Aerosole als beim Herantreten oder Verlassen des Tisches? Niemand weiß es. Jetzt ist es aber erst einmal eine Anordnung von ganz oben, um Ansteckungsgefahr zu minimieren, wie auch der Zettel mit Namen, Adresse oder Telefonnummer ausgefüllt werden muss. Was wir sonst nur widerwillig preisgeben, tun sollen aber nicht müssen, wenn unser Smartphone danach verlangt, ist immerhin online und weltweit. Jetzt handelt es sich lediglich um einen regionalen Eingriff in unser Leben? Niemand wird wohl seine ganz weit hinten im Kopf entstandene Idee des Missbrauchs umsetzen. Zurückverfolgend nachvollziehbar. Noch nicht. Mehr geht nicht, oder? Doch!
Feste feiern geht nicht, tanzen habe ich sowieso nie gemocht, aber mit mir selbst zu reden ist für mich nicht neu, das konnte ich schon immer. Dafür benötige ich keinen Mundschutz. Ergo bleibe ich lieber in meinen vier Wänden, amüsiere mich allein vor dem Bildschirm mit den Nachrichten. Es gibt ganz bestimmt wieder etwas „Neues“ zu sehen. Ich höre gern das, was man mir aus sogenanntem berufenem Mund über die Hilfe für Solo-Selbständige erzählt. Mein Lieblingsthema. Es betrifft mich. Natürlich ärgere ich mich dann immer noch ein bisschen, dass ich damals nicht dem Rat meiner Mutter gefolgt bin, und die Karriere eines selbstständigen Beamten eingeschlagen habe. Verwirrung gibts bei mir deshalb aber nicht. Meinem Arzt vertraue ich ja auch immer wieder. Gut so.
Einigkeit und Recht und Freiheit? Wo ist die Einigkeit diverser Bundesländer, wenn es um gemeinsame Regelungen geht, um wenigstens dem größten Teil des elenden Durcheinanders ein Ende zu setzen? Wo bleiben Recht und Toleranz, dass man seine Meinung über falsche Einschätzungen öffentlich diskutieren darf, ohne gleich als Meinungsmacher oder Verschwörungstheoretiker abgestempelt zu werden? Wo bleibt also die so häufig gepriesene Freiheit? Da sind unsere Nachbarn ganz anders. Sie fühlen sich frei, an Probetagen ihre Fenster zu öffnen, um uns kostenlos zuzuhören. Eine denkbare Hilfe für an Ungereimtheiten Erkrankter? Nein, ganz sicher nicht, aber Futter für die Seele und Wärme aus der Distanz. Es ist nämlich kalt geworden in unserem Land. Mag sein, dass es, wie in jedem Jahr, nur an der Zeit liegt. Schließlich wiederholt sich nicht nur alles, wir gewöhnen uns auch an alles solange wir noch unter den Lebenden sind.
„Man sieht es gern, wenn ich nicht bar zahle.“
Und ich sehe es nicht gern wenn jemand mit Karte zahlt:
Jede Benutzung dieser auf Kennnummer, Betrag und Ort sekundengenau registrierten Transaktionen sind ein weiterer Einschlag eines Sargnagels unserer Freiheit.
Wenn ein Geschäft oder Gasthaus mein (Bar-)Geld nicht will bekommt es eben nix, fertig.