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Ich erinnere mich – Von George B. Miller

Ich erinnere mich – Von George B. Miller

… nicht oft (und schon gar nicht chronologisch), aber wenn, dann gern … an die Zeiten im Nebel auf der Leiter nach oben, die ich immer erst später richtig genießen konnte, wenn die Sicht klarer wurde.

Meine Mutter hatte einmal mehr Recht. Durch die abgeschlossene Lehre werde ich nach meinem Wehrdienst nicht als Hilfsarbeiter in der Druckerei in Bremen eingestellt, sondern als erheblich besser verdienender Lagerverwalter mit drei Angestellten, die ich bei fleißiger Laune halten soll. Da ist der 52 Jahre alte Fahrer, Single und elender Klugscheißer, eine bleiche Magd aus den Karpaten um die 57, der ich aufgrund ihrer schlechten Haltung die meisten Arbeiten aus Mitleid abnehme, und ein 23-jähriger Sprinter mit zwei Gehirnzellen, eine für Ja und eine für Nein. Ich will mich als Unwissender weder aufdrängen noch unbeliebt machen. Also lasse ich das Trio gewähren. 

Sie werden besser als ich wissen, was zu tun ist. Außerdem zieht mich der kleine gelbe Gabelstapler sowas von magisch an, dass ich ständig im Lager Paletten sortiere, und danach bis zur völligen Entleerung seines Akkus wie ein geölter Blitz um die Maschinen in der Druckerei gurke. Mit diesen riskanten Aktionen fange ich mir jedes Mal eine warnend gefurchte Stirn vom Leitenden ein, der, genau wie ich, sein Augenmerk sonst eher auf die zierliche Sybille von der Schneidemaschine gerichtet zu haben scheint. Nach gefühlten zwei Wochen spreche ich sie an. „Wäre es dir sehr unangenehm, morgen Abend mit mir in die Stadthalle zum Catchen zu gehen?“ „Ich bin verlobt.“ „Na ja, wir wollen ja nur ein bisschen Unterhaltung, ein Bierchen trinken und nicht gleich heiraten, weißt du.“ „Ach so.“ 

Ich hasse dieses schlecht geschauspielerte Catchen wie die Pest, habe aber 2 Karten geschenkt bekommen. Sybille trägt Brille, ist zwei Köpfe kleiner als ich und sowas wie eine Anti-Schönheit, hat aber irgendwas, das sie für mich reizvoll macht. „Okay, ist gut, ich bin dabei. Holst du mich ab?“ Das tue ich gern. Die Halle ist nur halbvoll, das Gejohle aber so unerträglich laut, dass ich nicht wissen möchte, was passiert, wenn sie voll ist. Ein Gespräch ist nicht möglich, Küssen verfrüht. Lächeln bleibt als einzige Kommunikation. Ein wohlig wärmendes Gefühl. Das Bier bleibt trotzdem kalt. Wenn ich ihr etwas sagen möchte, muss ich ganz dicht an ihr Ohr, berühre mit meinen Lippen ihr blondes, betörend duftendes Haar. Sie weicht nicht zurück. Soll ich jetzt schon meine DNA auf ihrem Mund hinterlassen? Immerhin ist eine volle Stunde vergangen. Ich beschließe spontan, dass nein. 

Mädchen sollen am liebsten küssen, wenn sie vorher etwas Lustiges gehört oder gesehen haben. Was da im Ring passiert, ist leider überhaupt nicht lustig, und bei dem Lärm einen Witz zu erzählen? Einfach vor Schluss der Show mit ihr abzuhauen geht irgendwie auch nicht. Sie würde wohl ahnen weshalb. Ein guter Jäger geht leise durch den Wald. Da kommt das Angebot von ihr selbst. „Du, ich muss morgen wieder ziemlich früh raus. Bringst du mich bitte nach Hause?“ Laut gedacht, war‘s das? Ich habe laut gedacht? Und wenn schon, ihre Aussage ist ja deutlich eindeutig und hat nichts mit meinen Gedanken zu tun. Beim Überqueren der Straße zu ihrer Haustür verfingern sich unsere angeschwitzten Hände. Zärtliches 9-Volt-Block-Prickeln. Feuchtigkeit und Elektrizität, erste Zeichen von Amors lautlosem Flügelschlag? 

Sybille wohnt zur Untermiete. Ich kann einen „Coffee to go“ als Warmmacher für den Heimweg haben, sagt sie. Wir versuchen ganz leise im Slow Motion-Zehenspitzen-Einheitsschritt die alte Holztreppe hochzukommen, von der sie sagt, sie knarrt manchmal schon vom bloßen Hinsehen. Bloß kein Aufsehen erregen. Um jeden Preis dümmliche Fragen ihres Vermieters vermeiden. Fast unhörbar dreht sich der Schlüssel. Ich muss dezent gähnen. Sie hat‘s trotzdem gehört. Ihre Schlafstätte ist zu schmal für zwei Personen. Im Handumdrehen, und doch äußerst vorsichtig, hat die Süße ein Feldbett aufgebaut und bezogen, den „Coffee to go“ vergessen, während wir uns fast flüsternd unser Leben erzählen. 

„Ich bin verlobt!“ Ich weiß. „Aber doch wohl nicht mit dem Leiter in der Druckerei?“ „Nein!“ „Das ist gut.“ „Warum?“ Ich weiß es nicht. Das heißt, ich weiß es wohl, will es aber lieber nicht sagen. Also sagen wir nichts mehr. „Na dann.“ Sie löscht das Licht und krabbelt unter ihre Decke. Ich unter meine. „Kriege ich einen Gutenachtkuss?“ Stille. War meine gut gemeinte Frage zu leise? Doch dann höre ich das Quietschen ihres Bettes, tapsende Schritte, etwas fällt um, und sie beugt sich über mich. Verdammt, das ist kein Kuss, das ist Mandelhockey. Ihr Verlobter ist zu beneiden, selbst wenn sie keinen haben sollte. Ich habe drei Wochen später keinen Job mehr und bin brotlos. Daran ist sie allerdings schuldlos.

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