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Stille Masse – Mehr Bewegung durch direktere Demokratie?

Stille Masse – Mehr Bewegung durch direktere Demokratie?
Illustration: Pavel L Photo and Video/shutterstock.com

Versinkt Deutschland im Chaos? Zu dieser Annahme ist man in Zeiten wie diesen geneigt: Vereinzelt begehen Flüchtlinge Straftaten, daraufhin gehen tausende Menschen auf die Straßen und verleihen zu einem kleinen Teil ihrer Angst, zu einem sehr großen Teil ihrem Hass auf Menschen anderer Herkunft Ausdruck. Durch die gewaltige Stimme der Rechten wirkt es, als herrsche in Deutschland permanente Unruhe. Dass das nicht so ist, zeigt eine repräsentative Befragung zum Integrationsklima in Deutschland vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Laut dem „Integrationsbarometer“ hat der Großteil der Deutschen keine Angst vor Flüchtlingen, Migranten und Ausländern. Das Problem: Im Gegensatz zu den Rechten sind viele dieser Menschen nicht politisch aktiv, also still. Warum? „Den Menschen fehlen demokratische Erlebnisse. Es braucht Instrumente, um sichtbar zu machen, was Menschen denken“, sagt Tim Weber von Mehr Demokratie e.V. Er fordert mehr Elemente direkter Demokratie.

Die Ergebnisse des sogenannten „Integrationsbarometers“ sind für alle Demokraten beruhigend und passen so gar nicht zur aufgeladenen, teils unsachlichen Diskussion über Flüchtlinge, Einwanderung und Asyl. Mit Hilfe der Befragung misst der Sachverständigenrat das Integrationsklima in der Gesellschaft – die Stimmung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Einschätzungen und Erwartungen mit Blick auf Integration und Migration sowie der damit zusammenhängenden Politik. Dazu werden Fragen zu den Bereichen Arbeit, Bildung, soziale Beziehungen und Nachbarschaft gestellt. Die Herausgeber der Studie nehmen dabei sowohl die Einwanderungsgesellschaft als auch die Mehrheitsgesellschaft in den Blick und befragten für die aktuelle Auswertung insgesamt 9.300 Personen. Aus den Ergebnissen ergibt sich letztlich das Integrationsbarometer, in dem auf einer Skala von 0 (sehr negativ) bis 100 (sehr positiv) die Haltung der Befragten zur Integration gemessen wird.

Das erste bundesweite Integrationsbarometer erschien 2015, als die oft titulierte „Flüchtlingskrise“ begann. Die aktuellen Ergebnisse des Barometers zeigen, dass sich an der damals entspannten Haltung des Großteils der Bevölkerung nicht viel geändert hat. Der Index lag für die Menschen ohne Migrationshintergrund im Jahr 2015 bei 65,4 und ist 2018 nur minimal gesunken – auf 63,8. Entgegen des Rechtsrucks, den Demonstrationen und der Anfeindung von Flüchtlingen durch rechte Gruppierungen, hat sich an der Gemütslage der Gesamtbevölkerung demnach nicht viel geändert. So ergab sich zum Beispiel auch als ein zentrales Ergebnis, dass mit 72 Prozent die Mehrheit der Befragten Zuwanderung immer noch als Bereicherung sieht.

Trotz dieser Forschungsergebnisse sind die Stimmen der Rechten, die sich derzeit vermehrt – sei es bei Pegida oder auf AfD-Kundgebungen – zusammenschließen, extrem laut. Dadurch, dass sie auf die Straße gehen, erlangen sie eine weitaus größere Aufmerksamkeit als alle anderen. Und das liegt vor allem daran, dass die Mehrheit der Bevölkerung schweigt. Dies unterstrich im September auch eine repräsentative Forsa-Umfrage, wonach 31 Prozent der Befragten sich nicht mehr an Wahlen beteiligen wollen. Die fehlende Aktivität könnte für die Demokratie zur Gefahr werden. Um die demokratischen Strukturen nicht nur zu erhalten, sondern auch zu stärken, muss sich daran etwas ändern, sagt Tim Weber vom Landesverband von Mehr Demokratie e.V. Der Verein setzt sich für eine direkte Demokratie ein und plädiert für die Einführung regionaler sowie bundesweiter Volksbegehren und Volksentscheide. Damit sollen die Aktivität der Bevölkerung und die Wertschätzung für die Demokratie gestärkt werden.

„Teilweise fehlt die Rückkopplung“, sagt Tim Weber. Was er damit meint? Die Distanz zwischen den Menschen und der Politik sei aktuell zu groß, die Politiker würden nicht ausgiebig genug in den Austausch mit der Bevölkerung treten. Das liege nicht immer an den Politikern selbst, sondern eben auch am System. In einer Demokratie müssten die Menschen damit leben, dass es auch AfD-Befürworter gebe, aber sie müssten ebenso viel stärker spüren können, dass Demokratie Volksherrschaft bedeutet. „In meinen Vorträgen frage ich oft, wer sich als Souverän empfindet. Keiner zeigt auf“, so der Politologe.

Tim Weber sieht irische Bürgerversammlung als Vorbild

Laut Weber würden sich mehr Menschen aktiv an der Demokratie beteiligen und diese stärker zu schätzen wissen, wenn ihnen dazu Möglichkeiten der Beteiligung geboten werden – beispielsweise durch Volksbegehren. Als Beispiel nennt Weber das Bürgerbegehren gegen die Bebauung der Neuen Aue in Bremerhaven Lehe („Leher Dschungel“). Die Initiative „Meergestrüpp“ hatte rund 6.500 Stimmen gesammelt, um einen Bürgerentscheid zu bewirken. Dazu kam es jedoch nicht, das Bürgerbegehren wurde aus formalen Gründen für unzulässig erklärt. Es fehlte ein Kostendeckungsvorschlag. 

Weber wünscht sich mehr dieser Initiativen. Als Vorbild für eine politische Kultur, in der die Menschen stärker mit eingebunden werden, nennt er Irland. Dort wurde eine Art Demokratie-Revolution gestartet: seit 2012 werden regelmäßig Bürgerversammlungen (Citizens‘ Assemblys) einberufen, um bestimmte Fragestellungen zu bearbeiten. Im Oktober 2016 beriefen Politiker per Losverfahren 99 Iren – junge, alte, aus allen Gesellschaftsschichten – in eine solche Bürgerversammlung. Diese Versammlung sollte die Frage beantworten, ob Abtreibungen in Irland legalisiert werden sollen. Die Versammlung tagte ein Jahr lang mehrfach, ließ sich beraten und sprach sich letztlich für eine Legalisierung aus. Irland startete daraufhin in diesem Jahr ein Referendum, bei dem die Mehrheit der Bevölkerung für eine Lockerung des Gesetzes stimmte. Eine solche Bürgerversammlung wurde auch im Jahr 2015 eingesetzt, als die Homo-Ehe in Irland legalisiert wurde.

Institutionen wie diese meint Weber, wenn er von „fehlenden Instrumenten“ der Demokratie für die Bürger in Deutschland spricht, die sichtbar machen, was Menschen denken. Er weiß, dass diese Gedanken nicht immer für jeden erfreulich sind – schließlich hat beispielsweise auch ein Referendum in Großbritannien zum Brexit geführt. Aber die Einbindung der Bevölkerung spricht für eine gelebte Demokratie, die sich bei jedem Einzelnen bemerkbar macht – und für die es sich lohnt, öffentlich einzustehen und sie gegen die Feinde von Rechts- oder Linksaußen zu verteidigen. Gegen jene Demokratiefeinde, die sich bei Pegida und anderen Demonstrationen bündeln. Dass sich viele Menschen Veränderungen wünschen, zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes YouGov im Auftrag des Redaktionsnetzwerkes Deutschland: Auf die Frage „Sollten mehr Elemente direkter Demokratie wie Plebiszite oder Volksabstimmungen eingeführt werden?“ unter 2.300 Bundesbürgern antworteten 72 Prozent der Befragten mit „auf jeden Fall“ und „eher ja“. (sl)

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