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Wird die Currywurst rehabilitiert?

Wird die Currywurst rehabilitiert?
Illustration: Rohn Media GmbH/shutterstock.com

Anmerkungen zur Diäthypothese zum Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten, mit der bis heute Milliarden Umsätze bei fett- und cholesterinarmen Produkten gemacht werden


von Dr. med. Helmut Lange 


Als ich vor 40 Jahren begann, Herzpatienten zu behandeln, war die Vermeidung von tierischen Fetten bereits ein zentraler Glaubenssatz, den kein Arzt anzweifeln durfte. Generationen von Herzinfarktpatienten wurden in den Rehakliniken vor den Gefahren tierischer Fette und des Cholesterins gewarnt. Allenfalls ein mageres Stück Putenbrust war zum Mittagessen erlaubt, natürlich ohne Soße. Viele meiner Patienten lebten jahrelang in ständiger Angst, sich zu fetthaltig zu ernähren. Das Frühstücksei war eine Gefahr für die Gesundheit, die Currywurst ein absolutes Tabu. Nun aber gibt es immer mehr Wissenschaftler, die daran zweifeln, ob eine tierfettreiche Diät wirklich das Herz-Kreislauf-Risiko erhöht. 

Auf jeder Kennzeichnung der Inhaltsstoffe unserer Lebensmittel findet sich die Menge an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin, die es zu vermeiden gilt. Sie sind vorwiegend in tierischen Fetten wie Butter, Milch, Käse, Fleisch, aber auch Schokolade enthalten. Die Bezeichnung „gesättigt“ haben diese Fette wegen ihrer chemischen Struktur, die keine Doppelbindungen aufweist. Ungesättigte Fettsäuren dagegen sind in pflanzlichen Lebensmitteln und Fisch enthalten und weisen eine (einfach-ungesättigt) oder mehrere (mehrfach-ungesättigte) Doppelbindungen auf. Gesättigte Fettsäuren sind bei Raumtemperatur fest, ungesättigte Fettsäuren dagegen flüssig. Durch Erhitzen und Hydrierung lassen sich pflanzliche Öle härten und in Transfette umwandeln, die in Pommes, Chips, Tiefkühlpizza, Backwaren und vielen anderen Fertigprodukten enthalten sind und das Herz-Kreislauf-Risiko nachweislich erhöhen.

Omega 3-Fettsäuren gehören zu den ungesättigten Fettsäuren und sind in pflanzlichen Ölen und Fisch enthalten und haben nachweislich eine herzschützende Wirkung. Cholesterin ist ein wasserunlöslicher, weißer, kristalliner Feststoff, der chemisch vollkommen anders als die Nahrungsfette aufgebaut ist. Lediglich 0,1 g des täglichen Bedarfs von 1 g werden mit der Nahrung aufgenommen, 90 % werden von der Leber produziert. Durch vermehrte Zufuhr von gesättigten Fettsäuren oder Cholesterin kommt es nur zu einem geringen Anstieg des Cholesterins im Blut, da der Cholesterinspiegel von der Leber reguliert wird. Die Cholesterinproduktion in der Leber wird bei hoher Zufuhr heruntergefahren und umgekehrt. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, den Fettanteil der täglich zugeführten Kalorien auf 30 %, den der gesättigten Fettsäuren auf 10 % zu begrenzen. Der Fettkonsum in den westlichen Industrieländern liegt trotz dieser Empfehlungen deutlich höher, und zwar bei 40 % Fett und 20 % gesättigten Fettsäuren. 

Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen (Plaques) enthalten Cholesterin, jedoch ist das im Blut zirkulierende Cholesterin wirklich die Ursache für deren Entstehen? Diese Behauptung, die man „Cholesterinhypothese“ nennt, kam mir von Anfang an sehr simpel vor. Die Idee der Cholesterinhypothese wurde geboren, als vor über hundert Jahren ein russischer Forscher in einem Tierexperiment Kaninchen große Mengen cholesterinreichen Futters verabreichte und danach fettige Ablagerungen in ihren Arterien feststellte. Massive Fettablagerungen fanden sich auch in vielen anderen Organen dieser Tiere, die ja ausschließlich Pflanzenfresser sind. Natürlich war es absurd, diese Beobachtungen auf den Menschen zu verallgemeinern. Dafür spricht, dass seine Beobachtungen in der Folgezeit nicht an anderen Tieren (Hunde, Katzen) bestätigt werden konnten, die keine ausschließlichen Pflanzenfresser sind. 

In den 1960er-Jahren bekam die Diäthypothese richtigen Aufwind, als Ancell Keys in den USA in seiner Studie zeigte, dass in den sieben Ländern (Niederlande, Jugoslawien, Finnland, Japan, Griechenland, Italien und Amerika), die er in die Untersuchung eingeschlossen hatte, eine Beziehung zwischen der Menge von konsumierten tierischen Fetten und der Herzinfarkt-Sterblichkeit bestand. 

Heute wissen wir, dass seine Ergebnisse auf dem simplen Trick beruhten, durch eine gezielte Auswahl der in die Studie eingeschlossenen Länder das von ihm gewünschte Ergebnis zu konstruieren. Nicht in der Studie vertreten waren Franzosen, die trotz ihres fettreichen Essens ein niedriges Herzinfarktrisiko hatten. Auch die Mexikaner wurden weggelassen, die ebenso viele tierische Fette verzehrten wie die Finnen, jedoch siebenmal weniger Herztote aufwiesen. Unerklärt blieb in seiner Studie auch die Beobachtung, dass es auf Korfu sechsmal so viele Herztote gab wie auf Kreta, obwohl die Bewohner beider griechischer Inseln die gleichen Essgewohnheiten hatten. 

Von Anfang an gab es eine Vielzahl wissenschaftlicher Hinweise darauf, dass die Diäthypothese nicht stimmen konnte. Der ostafrikanische Stamm der Massai ernährt sich fast ausschließlich von Milch und Fleisch und dennoch haben sie einen niedrigen Cholesterinspiegel und bekommen keine Herzinfarkte. Die Diät der Bewohner von zwei Pazifikinseln besteht zu 50% aus gesättigten Fettsäuren in Form von Kokosöl, und dennoch sind bei ihnen Herzinfarkte unbekannt, und dies trotz eines relativ hohen Cholesterinwertes von 240 mg/dl. 

Zwischen 1955 und 2006 wurden 18 Diätstudien publiziert, die den Effekt einer tierfettarmen Diät auf die Sterblichkeit untersuchten. Lediglich bei drei Studien konnte eine Verbesserung der Sterblichkeit gefunden werden, und zwar nur dann, wenn die Probanden nicht nur weniger Fett, sondern auch erhöhte Mengen der schützenden Omega 3-Fettsäuren zu sich nahmen. Die wichtigste Studie ist die „Women’s  Health Initiative“, bei der 48.000 Frauen ihren Fettkonsum auf weniger als 20% der Kalorien reduzierten. Als Vergleichsgruppe dienten 29.000 Frauen ohne Einschränkungen des Fettkonsums. Nach acht Jahren zeigten sich keine positiven Auswirkungen auf das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen, obwohl das LDL-Cholesterin bei den fettarm lebenden Probandinnen signifikant niedriger war.

Einen weiteren Beweis für die Unwirksamkeit einer cholesterinarmen Diät liefert eine amerikanische Studie, die alle Forschungsarbeiten über die Auswirkungen des Konsums von Eiern analysiert und Daten von 300.000 Personen beinhaltet. Wie viel Eier gegessen wurden, hat keinerlei Einfluss auf die Herzinfarktrate. Personen, die jeden Tag ein Ei oder mehr verzehrten, haben sogar ein 12% niedrigeres Schlaganfallrisiko.

Trotz der dürftigen Datenlage, auf denen die Empfehlungen für eine tierfettarme Diät basieren, bestehen diese bis heute unverändert weiter. Neuerdings scheint es jedoch so zu sein, als schwinge das Pendel vielleicht in eine entgegengesetzte Richtung. Könnte es sein, dass eine tierfettarme Diät nicht nur wirkungslos, sondern sogar schädlich ist? 

Eine fettarme Diät hat nämlich eine Reihe unerwünschte Effekte, die das kardiovaskuläre Risiko erhöhen. Eine fettarme Diät führt zwar zu einer, wenn auch geringen Reduktion des „schlechten“ LDL-Cholesterinanteils im Blut, jedoch verringert sich der Anteil des „guten“ HDL-Cholesterins ebenso, und dies leider in einem noch stärkerem Ausmaß, sodass der Quotient LDL/HDL ungünstiger wird. Dieser Quotient gilt bis heute als wichtigster Indikator des kardiovaskulären Risikos.

Ein Gramm Fett liefert dem Körper neun Kilo-Kalorien, ein Gramm Kohlehydrate dagegen nur vier. Dies bedeutet, dass eine fettarme Diät zwangsläufig nur mit einer deutlich erhöhten Zufuhr von Kohlehydraten kompensiert werden kann, oft in der Form von Zucker. Dieser negative Effekt wurde von der Wissenschaft bislang kaum beachtet. Dabei spielte auch die amerikanische Zuckerindustrie, darunter auch Coca Cola, eine Rolle, die über viele Jahre durch Geldzuwendungen Wissenschaftler dahingehend beeinflusste, die kardiovaskulären Gefahren des Zuckerkonsums zu verharmlosen. Inzwischen gibt es in Deutschland sieben Millionen Diabetiker (25% mehr als vor 10 Jahren), und die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Die Kombination von Übergewicht und Diabetes ist besonders gefährlich für das Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen. Die betroffenen Patienten haben ein „metabolisches Syndrom“, das insbesondere durch eine „Insulin-Resistenz“ gekennzeichnet ist. Ihre Muskelzellen können trotz ausreichender Mengen Insulin im Blut nicht genügend Zucker aufnehmen, sodass ihr Blutzucker steigt. Selbst wenn sie sich fettarm ernähren, produziert ihre Leber große Mengen an gesättigten Fettsäuren, darunter besonders Palmitinsäure. Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien, die belegen, dass Menschen mit hohen Blutspiegeln von Palmitinsäure signifikant mehr Herz-Kreislauferkrankungen bekommen. 

Die 2017 erschienene „PURE-Studie“ untersuchte die Essgewohnheiten von 135.000 Menschen in 18 Ländern anhand von Fragebögen. Die Forscher konnten zeigen, dass die Gesamtsterblichkeit bei fettreicher Diät überraschenderweise niedriger war als bei fettarmer Kost. Zudem stellten sie fest, dass höherer Konsum an gesättigten Fettsäuren mit einem niedrigeren Schlaganfallrisiko einherging. Eine Kohlenhydratreiche Ernährung dagegen führte zu einer höheren Gesamtsterblichkeit.

Trotz der hier dargestellten Argumente, die eindeutig die Gefahren relativieren, die mit einer fetthaltigen Ernährung einhergehen, bezweifle ich, dass sich die Empfehlungen der Fachgesellschaften in den kommenden Jahren ändern werden. Das Dogma der gefährlichen Fette ist einfach zu tief verankert. Ich hoffe dennoch, dass Sie nach der Lektüre dieses Beitrags Ihre nächste Bratwurst – abgesehen vom Aspekt der zu verurteilenden Massentierhaltung – mit einem besseren Gewissen genießen können.


Dr. med. Helmut Lange: Der Autor war von 1991 bis 2020 als Kardiologe in eigener Praxis am Herzzentrum Links der Weser tätig.

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