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Nach acht Stunden Schule und AGs warten der
Gitarrenunterricht, das Fußballtraining und die
Hausaufgaben. Kein Wunder, dass es den Kindern
irgendwann zu viel wird. Eine Studie der DAK belegt,
dass fast jeder zweite Schüler (43 %) unter
Stress leidet. Die frühen Lebensjahre, in denen das
Spiel mit Kameraden und eine gewisse Leichtigkeit
den Alltag prägen soll, werden zur Last, zur
durchgeplanten Vorstufe eines erfolgs- und zielorientierten
Erwachsenendaseins. Die Kinder klagen
über Kopf-, Bauch und Rückenschmerzen
oder Schlafprobleme und Schwindel – alles klassische
Burn-Out Symptome. Ausgelöst werden
die Beschwerden durch Mobbing, den Leistungsdruck
oder schlechte Noten – beziehungsweise
die Angst der Eltern vor der Reaktion auf schlechte
schulische Leistungen. Leiden Kinder unter Stresssymptomen,
ist Hilfe unbedingt erforderlich. Doch
interpretieren viele Eltern die Warnzeichen falsch
oder merken gar nicht, was das Problem ist – oder
wer: und das sind leider allzu oft sie selbst, wie aus
einer Untersuchung der Universität Bielefeld von
2015 hervorgeht.
Der hohe Leistungsdruck der Eltern setzt die Kinder
unter ständigen Stress und anstatt zu helfen,
verschlimmern sie die Situation nur. Wenn die Leistungen
in der Schule abfallen, reagieren viele Eltern
mit Förderunterricht oder Nachhilfe, was das
Leiden des Kindes nur weiter verstärkt. In einer Studie
der Bertelsmann Stiftung stellte man fest, dass
deutsche Eltern etwa 900 Millionen Euro jährlich für
Nachhilfe ausgeben. 1,2 Millionen Schüler werden
so neben der Schule privat unterstützt. Diese Förderung
dient allerdings nicht immer der Prävention
von schlechten Noten. Mehr als ein Drittel der
Schüler erbringt bereits befriedigende bis sehr gute
Leistungen, das ist den Eltern aber oftmals nicht
gut genug. Sie erwarten ein Maximum an Leistung
von den Kindern – und zwar in allen Belangen.
Zusätzlich wird neben der Schule leistungsorientiert
erzogen. Mit AGs, Sport und dem Erlernen
eines Musikinstruments wird jede freie Minute
genutzt, um das Kind zu kultivieren. Für sich genommen,
sind die einzelnen Maßnahmen auch
sicherlich förderlich für das Kind, vor allem wenn
das Tun aus dem eigenen Interesse des Kindes erwächst.
Allerdings ist die schiere Anzahl der Betätigungen,
gerade wenn sie primär von den Eltern
gewollt sind, eher schädlich. Irgendwann übernimmt
das Kind den Leistungsgedanken der Eltern
und leidet unter der Angst, dem Anspruch der Eltern
nicht zu genügen und sie zu enttäuschen, was
weiteren Druck ausübt.
Zusätzlich leidet die Persönlichkeitsentwicklung
unter dieser »Terminkindheit«. Dr. Alma von der Hagen
Demszky, von der Ludwig-Maximilians-Universität
München schreibt in ihrer Studie Familiale
Bildungswelten: „Terminkinder sind oft gestresst
und hetzen von einem extern vorgegebenen Termin
zum anderen. Zudem führen sie ihre Aktivitäten
nicht in Eigenregie aus und sind auf Erwachsene
angewiesen, wodurch sich bei diesen Kindern
Kompetenzen für die Gestaltung der eigenen Zeit
weniger entwickelt.“ Außerdem leidet auch die soziale
Kompetenz unter der wechselhaften Freizeitgestaltung
– die letztendlich nur wenig mit wirklicher
Freizeit zu tun hat, denn „Kinder gehen immer
seltener ganzheitliche Beziehungen ein und erleben
ihre jeweiligen Gegenüber ausschnitthaft und
austauschbar“, schreibt sie.
Die Professionalisierung
der Eltern
Was sind die Gründe dafür, dass Eltern ihre Kinder
so akribisch fördern? Zum einem liegt es an der demografischen
Entwicklung, stellt Claudia Becker
in ihrem Artikel »Optimierte Kindheit« in der Welt
(28.02.2016) fest. In Deutschland liegt die Geburtenrate
bei 1,4 Kindern je Frau. Diese Kinder werden
zu Investitionsobjekten, in die viel Förderung gesteckt
wird. Dabei spielt der eigene Optimierungswahn
der Eltern, selbst »Superpädagogen« sein zu
wollen, eine große Rolle. Die Gesamterwartungen
werden auf das Kind projiziert, die Mühen der Eltern
sollen sich in der Entwicklung des Kindes niederschlagen
als Muster für ein erfolgreiches Leben.
Die Eltern beginnen mit der zielgerichteten Förderung
des Kindes bereits im Säuglingsalter. Besonders
ehrgeizige Eltern beschallen ihr Baby mit CDs,
auf denen Kinderlieder oder Klassische Musik zu
finden sind, oder gar mit Audioprodukten, die ihnen
das Zählen oder Frühenglisch vermitteln sollen,
beschreibt es Claudia Becker. Jede Studie, die
im Sinne einer Optimierung halbwegs Sinn macht,
wird von den Eltern herangezogen um das Kind zu
erziehen, anstatt dem Kind auch die Freiräume zur
Entwicklung einzuräumen, die es braucht.
Selbstständigkeit fördern –
Entwicklungs-Freiräume schaffen
Waldorfschulen und Montessori-Pädagogik erlebten
in den letzten zwanzig Jahren einen regelrechten
Boom. Keine Noten, kein Sitzenbleiben –
das bedeutet weniger Stress und mehr Raum für
selbstbestimmtes Lernen. Aber wie sieht so ein alternativer
Lehransatz aus? In einem Interview mit
dem Blog »stadtlandmama« spricht Christian Grune,
Diplom-Pädagoge und Vorstandvorsitzender
erziehung
der Montessori Stiftung Berlin, über die Besonderheiten
der Montessori Pädagogik. Auf die Frage,
welche Eigenschaften der Kinder bei Montessori
besonders gefördert werden antwortet Grune:
„Montessori-Pädagogik fördert Eigensinn und
Verantwortungsbewusstsein, Kreativität, Begeisterungsfähigkeit
und Mitgefühl. Die Kinder entwickeln
einen Sinn für sich, der immer auch die
Gemeinschaft im Blick hat, in der sie leben. Sie lernen
selbständig zu denken, zu handeln und für ihre
Interessen einzustehen. Wer möchte, dass Kinder
tun, was man sagt, ist hier falsch. Wer hingegen
den lebendigen Austausch mit Kindern schätzt, die
kreativ sind und kritisch denken, wird seine wahre
Freude haben.“ Die Eltern erfüllen dabei eher eine
unterstützende als eine leitende Funktion, denn
„jedes Kind wird neugierig geboren und möchte
unbedingt die Welt mit allen Sinnen erfahren. Es
entdeckt voller Tatendrang alles um sich herum,
es lernt wie von selbst laufen und sprechen, durch
Beobachtung, Erfahrung und Nachahmung. Die Eltern
behalten es im Blick, passen auf, dass es sich
keinen Gefahren aussetzt, geben Hilfestellungen.
Das ist genau die Art des Lernens, die Montessori-
Pädagogik aufgreift und fortführt: selbstbestimmt
die Welt erfahren, innerhalb eines geschützten
Rahmens, der sich nach und nach weitet. Das ist
die natürliche Form des Lernens“, sagt Grune.
Bilder (shutterstock.com): alphaspirit ( Junge Türen), sandsun (Baby mit Mobilé), kikovic (Tangram), AlesiaKan (Mindstorms programmieren), George Rudy (Schach spielen)
Dass Eltern ihre Kinder dadurch zum
bloßen Schauobjekt der vermeintlichen
elterlichen Kompetenz degradieren,
fällt ihnen nicht auf. Ihr eigenes Motiv
erscheint ihnen ja lauter und sie selbst
wenden viel Zeit, Muße und Mittel auf,
um ihren Sprössling zu optimieren.