
Ich erinnere mich
Von George B. Miller
… nicht oft (und schon gar nicht chronologisch), aber wenn, dann
gern … an die Zeiten im Nebel auf der Leiter nach oben, die ich immer
erst später richtig genießen konnte, wenn die Sicht klarer wurde.
Es war das Jahr des Coupe de Ville von Cadillac,
der bei General Motors für mächtigen
Stolz sorgte. Meinen Vater interessierte
das weniger. Er liebte seinen lackfreien
56er Beulen-Buick, den er einem heimkehrenden
Army-Kollegen für eine Handvoll Dollar
abgeluchst hatte. Meine beiden jüngeren
Schwestern und ich hatten ebenfalls bessere
Sorgen. Seitdem wir vom Bahnhof Lehe
nach Twischlehe mitten in die amerikanische
Wohnsiedlung gezogen waren, hatte uns das
Halloween-Gruselfieber gepackt. Sich bis zur
Unkenntlichkeit verkleiden, dann von Haustür
zu Haustür flitzen und einzigartige Süßigkeiten
sammeln, die es hier nirgends zu
kaufen gab. Spannung und Spaß. Die Amerikaner
wussten wohl, dass am 11. November
jeden Jahres bei uns der St. Martins Tag
gefeiert wurde. Eine ähnliche Tradition wie
„Halloween“ am 31. Oktober bei ihnen, ganz
besonders natürlich für Kinder, aber zweimal
absahnen? Das schien den meisten übertrieben,
und so führten sie Stichkontrollen
durch, um deutsche Kids zu entlarven. Dabei
ist es im Grunde ein alter katholischer
Brauch irischer Einwanderer, den die Amis
sich nur auf ihre Fahne schrieben.
Mädels hatten es mit einem simplen Fummel
und etwas Schminke relativ einfach. Ich dagegen
musste höllisch aufpassen, dass ich
als Long John Silver meine Augenklappe immer
rechtzeitig hoch und runter klappte –
auch wenn der selbst gar keine trug – wollte
ich nicht ständig wegen heftigem Kopfschmerz
vom ungewohnt einäugigen Blinzeln
frühzeitig nach Hause müssen. Andererseits
wahrte dieses Accessoire aber ja auch das
Inkognito. Mein Vater, gerade von der Front
im koreanischen Busch auf Heimaturlaub, erkannte
das Problem und sagte: „Was hältst
du vom Tin Man aus dem „Wizard of Oz“?
Das wäre doch freakig und originell, no?“ Ich
verstand kein Wort, weder so noch so, nickte
trotzdem freudig. Was mein Dad machte,
das machte er richtig. Aus Blechdosen,
in denen wohl mal 30 Bockwürste zu ihren
mageren Lebzeiten Platz gehabt hätten und
gebrauchten, aber stabilen Kartons bastelte
er einen Tin-Papp-Kameraden und strich ihn
silbern an. Nur noch das Innenleben fehlte.
Mir schwante Böses. Breite Tragegurte von
innen würden das Monstrum zwar auf meinen
Schultern halten und Sehschlitze hatte
es auch, aber Gewicht und Unbeweglichkeit
erlaubten doch maximal ein elendes Schneckentempo
unter jeglichem Fortbewegungsniveau.
Insgesamt sah alles auch mehr nach
einem strapazierten Gepäckträger aus, als
nach einer lustigen Märchenfigur. Kar tons
und Dosen waren sinnvoll und so geschickt
zusammengebaut, dass zumindest der Geräuschpegel
erträglich war. Immerhin steckte
ich in einem nicht zu unterschätzenden
Klangkörper. Meine Mädels schwebten als
federleichte Geister mit gruseligem Gewand
unbeschwert vorneweg. Ich hingegen musste
fürchten, dass alle Leckereien bereits verteilt
waren, sollte ich tatsächlich irgendwo
ankommen.
Unzählige Monstren, Hexen und Zauberer
huschten gespenstisch durch das frühe Dunkel.
Sie klingelten, die Tür öffnete sich und
ein lautes „Trick or Treat“ (frei übersetzt: Süßes
oder Saures – entweder spendiert ihr
uns was oder wir spielen euch einen Streich)
sollte die leckeren Schätze in ihre Beutel
bringen. Meine Schwestern, die ich wegen
ihres engelgleichen Aussehens vor mir herschob,
bekamen aber nur ein mickrig und
ziemlich deutsch klingendes „trickeltri“ raus.
Für mich war es wie der ungelenke Tanz auf
einer emotionalen Rasierklinge, jedenfalls
äußerst peinlich. Meine eigene Pappstimme
hörte sich wohl auch eher nach dem Entrinden
einer alten Lärche an. Ich wollte am
liebsten im Erdboden versinken. Leider hatte
ich das genau so wenig gelernt, wie mich
durchsichtig zu machen. Wir hätten uns besser
einer Horde Amerikanern angeschlossen,
um aus der zweiten Reihe auf die begehrten
Candy zu warten. Das mussten wir
aber niemandem
dem Zufall überlassen, da ich mit Schritt halten konnte.
Eine mit besonders stark ausgeprägtem
Geiz behaftete Familie bat uns Drei in ihre
gute Stube. Ex-Miss Oklahoma (oder Staat
der ewigen Cowboys, priemenden Saloon
Opfer und von allen guten Geistern verlassen),
von 69 auf 66 runtergepimpt, mit einem
Glas Schampus in der Hand, dem stechenden
Blick eines ausgehöhlten Kürbis
und dem Lächeln einer Flohmarkt Rollex auf
den spröden Lippen, prüfte unsere Echtheit.
„What´s your name?“ Carol sagte ihren, ich
nannte meinen und bevor Gisela ihren deutschen
sagen konnte, rasselte ich aus heiterem
Himmel mit meinen Dosen, ließ meine
Arme an die Seitenwände donnern, dass die
Schwestern ängstlich zusammenzuckten.
Nicht verstanden? Ok, nächste Frage! „Are
you German or American?“ Nochmal konnte
ich diese Geräuschnummer zur Ablenkung
nicht abziehen. Meine Rüstung verlieh
mir inzwischen aber eine freche Sicherheit,
Spontanität und eine Eingebung: Die einzige
Antwort konnte nur eine Lüge sein. Sie ließ
mich schaurig hallend, aber laut genug rufen:
„Russian“! Das fanden sie offensichtlich zum
Schießen komisch. „Happy Halloween“ – und
Buntes fiel in unsere Tüten.
Natürlich klappte das nicht immer, aber immer
war es ja auch nicht so. Bei manchen
Familien, die gar nicht erst öffneten, konnte
man Senf oder Ketchup auf der Türklinke erkennen.
Ich glaubte sogar, einen unverzollten
Hundehaufen vor einer Tür entdeckt zu
haben. Das mussten abgewiesene oder enttarnte
deutsche Kids gewesen sein; denn die
Besatzer geschmuggelten
hielten sich in der Regel keine Tiere.
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