
gesellschaft
steht »Die Lüge der digitalen Bildung«: das klaffende
Loch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Des müssen sich Bildungspolitik und Öffentlichkeit
bewußt sein, um sich nicht vom Zeitgeist einlullen
zu lassen.
„So ein Buch würde ich
nicht verwenden“
Aufklärung verschafft hier das Buch von Lembke
und Leipner, das unbequeme Wahrheiten offenlegt.
Wie mutig ihr Unterfangen ist, zeigt die folgende
Begebenheit: An einer norddeutschen
Universität sitzt ein Student in der Bibliothek
und hat unter anderem dieses Buch vor sich liegen.
Da kommt ein Dozent auf ihn zu und spricht
ihn an: „So ein Buch würde ich nicht verwenden,
sonst könnte das später mit der Anstellung
schwer werden.“
Ein Buch, das eine solche Brisanz besitzt, muß
erst recht bekannter gemacht werden. Es handelt
sich aber nicht einfach nur um eine Kampfschrift
gegen den Digitalisierungswahn. Es bietet
weit darüber hinaus zahlreiche Informationen
und Bedenkenswertes darüber, wie Bildung entsteht
und was die besten Voraussetzungen dafür
sind. Die Autoren berufen sich in allen ihren Urteilen
– anders als so mancher Digitalisierungsverfechter
– auf Forschungsergebnisse. Erst diese
wissenschaftliche Grundlage macht das Buch
so wertvoll.
Der erste Teil legt den Schwerpunkt auf Kleinkinder,
Kindergarten und Grundschule; der zweite
Teil auf weiterführende Schulen, Ausbildung
und Studium. Die Verfasser gehen drei Leitfragen
nach: Erstens: Wie verläuft die kognitive Entwicklung
von Kindern? Zweitens: Welche Wirkung haben
digitale Medien auf den einzelnen Entwicklungsstufen?
Drittens: Welche pädagogischen
Konzepte sind für diese Entwicklungsstufen angemessen?
Dabei finden sie zahlreiche Belege
für ihre zehn provokativen Thesen. 1. These: „Eine
Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins
digitale Zeitalter.“ 5. These: „Wer bei einem Lernprozeß
die Wahl zwischen realen und virtuellen
Hilfsmitteln hat, sollte sich für die Realität entscheiden
…“ 8. These: „Egal ob Tablet oder Kreidetafel
– die Qualität des Unterrichts steht und
fällt immer mit der Persönlichkeit des Lehrers.“
Dabei lassen die Autoren auch einen Zeugen zu
Wort kommen, der leider zu selten gefragt wird,
nämlich das Gehirn: „Ich bringe einen eigenen
Bauplan auf die Welt mit – und habe entsprechende
Ansprüche, damit ich mich gut entwickeln
kann. Verschont mich bitte mit digitalen
Medien, weil sie sich völlig gegen meine hirnphysiologischen
Bedürfnisse richten.“ Ergebnisse
aus der Hirnforschung sind grundlegend für das
Buch. Lembke und Leipner stützen sich auf die
Erkenntnisse der Gehirnforscherin Gertraud Teuchert
Noodt. Diese kommt im abschließenden
Kapitel »Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen
Sie das Gehirn« zu Wort.
Der Autor: Thomas Paulwitz ist Chefredakteur
der Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ und
Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Straße der
deutschen Sprache“. Sein Beitrag erschien auf
www.deutsche-sprachwelt.de
Gerald Lembke, Ingo Leipner: Die Lüge der digitalen
Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen,
Redline-Verlag, München 2018, 3., überarbeitete
Auflage, 256 Seiten, gebunden, 19,99 Euro.
Fünf Hürden auf dem
Weg zur Intelligenz
Teuchert-Noodt nennt fünf Hürden auf dem
Weg zur Intelligenz, die durch digitale Medien
nicht beseitigt, sondern im Gegenteil
höher gemacht werden.
Die erste Hürde ist die Körperbewegung: Digitale
Medien schränken das Bewegungsverhalten
der Kinder ein, was die aktive und dynamische
Phase der Hirnreifung belastet. Der
Aufbau kognitiver Fähigkeiten wird gestört.
Die zweite Hürde ist die Verankerung kognitiver
Funktionen: Angeeignete Bewegungsabläufe
helfen dabei, geistige Zusammenhänge
zu erkennen. Stundenlanges Sitzen
vor Fernseher und Rechner behindert den
Aufbau dieser Lerngrundlage.
Die dritte Hürde ist die „Neuroplastizität“, also
die flexible Anpassung des Hirns an neue
Bedingungen: Wischen, Tippen und Klicken
auf Bildschirmen und Tastaturen schaden der
Gehirnentwicklung, weil es nicht die Feinmotorik
übt. Das Schreiben mit dem Stift fördert
die geistige Entwicklung wesentlich stärker.
Die vierte Hürde ist die „motivational-emotionale
Zuwendung“: Elektronische Geräte aktivieren
einseitig das Belohnungssystem, das
über Opiate und Dopamin angefeuert wird.
Die Kinder vernarren sich dadurch in die Geräte,
kommen nicht mehr davon los, es besteht
Suchtgefahr! Das Stirnhirn ist bei Kindern
und Jugendlichen nämlich noch nicht in
der Lage, kognitive Konflikte zu kontrollieren:
„Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung“.
Wird die Reifung des Stirnhirns gestört, können
sich Überaktivität, Konzentrations- und
Denkschwächen einstellen.
Die fünfte Hürde schließlich ist die „Schlafhygiene“:
Digitale Medien bringen durch Überreizung
den Rhythmus der Hirnströme durcheinander.
Am Abend machen sich langsame
Wellen auf den Weg vom Hirnstamm zum
Stirnhirn. Sie leiten dort den Tiefschlaf ein, „ab
und zu unterbrochen durch rhythmische Impulse
aus dem Hippocampus. Das ist gut für
die Gedächtnisbildung“. Der Genuss digitaler
Medien stört diesen Prozeß. Vor dem Schlafengehen
sollte man also lieber Vokabeln lernen
oder ein gutes Buch lesen, zum Beispiel dieses!
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