
Ich erinnere mich
Von George B. Miller
… nicht oft (und schon gar nicht chronologisch), aber wenn, dann
gern … an die Zeiten im Nebel auf der Leiter nach oben, die ich immer
erst später richtig genießen konnte, wenn die Sicht klarer wurde.
Die meisten beginnen mit: „Weißt du noch?“
Dann erinnert sich mein Kumpel an das mit
ungewöhnlicher Hingabe verlorene Auswärtsspiel:
im Fan-Bus zu den Auswärtsspielen mitzufahren.
Wer nie mit seinem Talent oder einem erarbeiteten
Können vor Publikum aufgetreten ist,
nie das Brot des Applauses genossen hat, der
weiß nicht was ihm entgangen ist. Mein Großvater,
damals ehrwürdiger Reichsbahnrat i.R.,
sagte mir jedes Mal, wenn ich versuchte das
Thema „RockʼnʼRoll“ anzuschneiden: „Junge,
das ist brotlose Kunst.“ Was anderes hätte
er als Laie auch sagen sollen? Seine Leidenschaft
gehörte dem Fußball, stolzer Träger
der goldenen Ehrennadel des ATS Bremerhaven.
Ein Verein mit Spielern, die allenfalls genauso
„brotlos“ kickten. Das wagte ich allerdings
nie laut zu sagen, sonst wären bei den
Heimspielen, zu denen ich immer mit musste,
die Tafel Schokolade samt Florida Boy und
50 Pfennig zur freien Verfügung gestrichen.
Was „Abseits“ bedeutet, lernte ich erst viele
Jahre später, glaubte aber, das verbindende
Glied zwischen der Mannschaft auf dem Platz
und meiner Band zu erkennen, den Geist des
Teamplays. Nur zusammen konnte sich Stärke
entwickeln,lediglich
Individualismus schien mir das i-Tüpfelchen zu sein.
Als mein über alles geliebter Großvater am
Ende der 80 angekommen, und zum Sterben
bereit war, legte ich ihm meine erste Single
auf die Bettdecke, „Susann Chérie“ (Cracker
Jack). Für mich ein sicheres Zeichen des Beginns
meiner Karriere als Berufsmusiker. Ich
glaubte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen,
und deutete es als ein „na dann man
los“. Guitar-George nahm mich jetzt mit zum
Fußball des OSC Bremerhaven. Wir besuchten
ihre Spiele, sie unsere Konzerte. Wir zelebrierten
ihren Aufstieg in die 2. Liga, trauerten
beim Abstieg ins Amateurlager, sie erlebten
unsere Hochzeit in der Profiklasse mit Wolfsmond
und unsere weniger erfolgreichen Versuche
mit Easy Flight. Wie auch immer, wir waren
unsere Helden. Manchmal wurden wir vom
Inhaber des „Scotch“, Dieter Deckers, eingeladen,
Hossa, welch illustre Gesellschaft.
Zahnlose, nichtsdestotrotz ungemein lautstarke
Trunkenbolde, denen anzumerken war,
dass sie den Anpfiff nicht miterleben würden,
vorausblickend ganz nach hinten verfrachtet,
und eine genervte, stocknüchterne Mehrheit,
die gegen diese lustigen Rabauken irgendwie
machtlos wirkte. Selbst die opulente Figur des
Gastgebers Deckers, die einem durchaus Respekt
einflößte, wenn er sich vor einem aufbaute,
brachte nur vorübergehend Linderung.
Da hielt George mit einem kunstvoll gedrehten
7-Blatt dagegen, und zack, dank des einwandfrei
funktionierenden Umluftgebläses waren
plötzlich alle high wie ostfriesische Wimpernhennen,
jedenfalls auf einem vergleichbaren
Level, auch ohne die Tüte je in den Fingern
gehalten zu haben. Niemand von ihnen begriff
wirklich, wieso sich mit einem Mal die Watte
der Einvernehmlichkeit
„wer bist du, wenn ich nicht hinsehe“-über alles gelegt hatte.
Am Ziel angekommen, es waren vielleicht noch
gute 1.000 m Fußweg zum Stadion, erlebte ein
Drittel immerhin die zweite Halbzeit, während
ein verschwindend kleiner Haufen im benachbarten,
aber falschen Stadion mit ihren Karten
immer noch resolut Einlass begehrte. Eine
muntere Quote. Das war natürlich nicht immer
so. Hin und wieder erwischten wir uns auch
bei ernsthaften Fachgesprächen mit leicht zu
verstehenden, aber schwer beantwortbaren
Fragen wie, „weshalb seid ihr noch nicht berühmt?“
oder „wieso seid ihr schon zum zweiten
Mal abgestiegen?“. Hoch brisante Endlosdiskussionen,
die beim nie warm werdenden
Bierglas in der Seniorenrunde bei Hansi bis
heute beibehalten wurden, weil sie nach wie
vor die gute Laune beim Verfolgen der miesen
Relegationsspiele im TV aufrecht halten.
Meppen vs. OSC, als wir unseren mitgebrachten
Jack Daniels, ein Geschenk der amerikanischen
Kollegen von Seldom Sober, am
Spielfeldrand unter die Bank stellten auf der
wir saßen und dachten, da sei die Gallone vor
der gleißenden Sonne geschützt. Der Grog belehrte
uns eines Besseren, als wir es schon
nicht mehr merkten. Das Spiel war heiß, der
Jack Daniels nicht minder. 90 Minuten waren
längst vorbei, wir hatten den Abpfiff des
Schiedsrichters als Halbzeit gedeutet, da saßen
wir immer noch als „Brothers in Arms“ auf
der vereinsamten Bank und glaubten an einen
Sieg unserer Jungs. Niemand mehr auf dem
Grün, kein einziger Zuschauer mehr zu sehen,
die Mitfahrgelegenheit weg. In diesem unseligen
Zustand waren wir uns dennoch sicher,
man würde uns vermissen und suchen. Weit
konnten wir ja nicht sein. Alles gut.
Niemand von ihnen oder uns ist heute noch
Profi. Die einen kicken, wenn auch gekonnt,
Kieselsteine über den eigenen Schrebergartenzaun
in den lustkranken Swimmingpool
des Nachbarn, andere versuchen sich als Dirigenten
mit hoch erhobenem Krückstock an
der Par titur des Megahits „Wahnsinn, warum
schickst never
du mich in die Psychose“ oder, „I promised you Atrhrosegarden“. Jeder wie
er kann. Wir gehörten damals mit Abstand zu
den Besten, und tun es, dank Corona, auch
heute immer noch.
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