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einmal mehr auf den Faktor drei. Bayern
liegt mit den restriktivsten Maßnahmen
und der strengsten Maskenpflicht mit
22,3 Corona-Toten auf 100.000 Einwohner
momentan an der Spitze aller Bundesländer
(Bundesschnitt: 13,6) und holt
wie Gesamtdeutschland zu Schweden
(59,5) tagtäglich auf. Im Oktober, auf die
Einwohnerzahl bereinigt, hatte die Bundesrepublik
fast doppelt so viele Corona-
Tote wie Schweden zu beklagen und diese
Entwicklung setzt sich fort.
Und so steht, Umfragen zufolge, die große
Mehrheit der Bevölkerung mit steigender
Tendenz, hinter dem Kurs der
Gesundheitsbehörden und die internationale
Berichterstattung ruft bei vielen
stolzen Schweden nur noch Verwunderung
und manchmal auch Wut aus. Tegnell
steht bei den Pressekonferenzen in
Stockholm angesichts stark ansteigender
Fallzahlen weiterhin wie ein Fels in
der Brandung, wobei die Journalisten lange
nicht so eine Welle machen wie im April,
als der Staatsepidemiologe für seinen
vermeintlich laxen Umgang mit der Pandemie
sogar Morddrohungen erhielt und
unter medialem Dauerfeuer stand.
Auf Facebook gibt es heute Tegnell-Fanclub
Gruppen mit Zehntausenden Mitgliedern,
die weiterhin geöffneten Clubs
feiern Partys für ihn. Fanartikel und TShirts
werden verkauft, er wird gemalt
und modelliert, gestrickt und plakatiert
und bei vielen Menschen ziert er nun die
heimische Einrichtung. Einige Schweden
haben ihn sogar auf ihrer Haut als Tattoo
verewigt. Ihm wurde auch die besondere
Ehre zuteil, in diesem Jahr das „Sommerinterview“
führen zu dürfen, wofür er sich
traditionell mit einem schwedischen Blumenkranz
schmücken ließ.
Tegnell wird für seine ruhige und klare
Art verehrt und vor allem auch dafür,
dass er etwaige Kollateralschäden von
Maßnahmen immer im Blick hat. Weil der
64-jährige eben nicht nur auf Fallzahlen
schaut, die in Schweden nach einer Verdreifachung
der Tests derzeit massiv ansteigen3.
Wobei in Schweden die Inzidenz
(Fälle/100.000 Einwohner) im europäischen
Vergleich niedriger liegt als in
weiten Teilen Europas. Weil Tegnell, wie
die Virologen Hendrik Streeck und Jonas
Schmidt-Chanasit sowie der Kassenärzte
Verband für Deutschland forderte, die
Positivrate, die Krankenhauseinweisungen
und vor allem die weiter gleichbleibend
niedrigen Todesfälle mit Covid-19
im Blick hat. Übrigens gilt dabei auch
in Schweden die Definition der Europäischen
Seuchenbehörde: Diese empfiehlt,
dass jeder, der binnen 28 Tagen nach positivem
Befund verstorben ist, in die Statistik
aufgenommen werden müsse. Das
gilt auch für diejenigen, die ohnehin auch
ohne Covid-19 verstorben wären.
Das alles gibt es in Schweden weiterhin
nicht: Masken(pflicht), Beherbergungsverbote,
Sperrstunden, kalte Klassenzimmer
mit maskierten Kindern, Aufrufe zum
Denunziantentum, Verordnungswahn,
Corona-Polizeikontrollen, Diskussionen
um die Unverletzlichkeit der Wohnung,
Demonstrationen gegen die Corona-Politik,
Bundeswehr im Innern, Schulklassen
in Quarantäne und vor allem bleibt es dabei:
„Wir werden weitermachen wie bisher
und Lockdowns vermeiden“, so Tegnell.
Das ebenso wie Deutschland stark exportorientierte
Schweden scheint so in
puncto Wirtschaft besser zu fahren als
die Länder, die mit strikteren Maßnahmen
gegen die Pandemie vorgehen. Zwar
brach auch das schwedische Bruttoinlandsprodukt
im zweiten Quartal während
der Lockdowns im Ausland um nie
da gewesene 8,2 Prozent zum Vorjahresquartal
ein. Damit hielt sich die Wirtschaft
aber besser als in Deutschland – hierzulande
schrumpfte die Leistung im zweiten
Quartal um 11,7 Prozent zum Vorjahr.
Laut dem staatlichen Unternehmensanalysebüro
Tillväxtanalys wurden
in den ersten sieben Monaten 2020
knapp 9 Prozent mehr Konkurse verzeichnet
als im gleichen Vorjahreszeitraum.
Ernstzunehmende Vergleichszahlen
aus Deutschland gibt es nicht: Die in
Deutschland bis zum Jahreswechsel ausgesetzte
Insolvenzanmeldepflicht gilt in
Schweden weiterhin. Die Auskunftei Creditreform
schätzte im August die Zahl
der sogenannten „Zombie-Unternehmen“
derzeit auf 550.000. Sollte die Insolvenzantragspflicht
in Deutschland bis März
2021 ausgesetzt bleiben, was im Gespräch
war, so könnte sich die Zahl der
Zombie-Unternehmen laut Creditreform
auf 700.000 bis 800.000 erhöhen: „Die
Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag.
Denn die Insolvenzen werden derzeit nur
verschoben“, warnte seinerzeit Patrik-
Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung
bei der Auskunftei Creditreform
gegenüber der „Welt“. „Dadurch könnten
viele derzeit noch gesunde Firmen mit in
den Abgrund gerissen werden.“ Das habe
am Ende gravierende Auswirkungen auf
die Zahl der Arbeitsplätze. Und: Weitere
Lockdowns hatte die Creditreform seinerzeit
noch gar nicht auf dem Schirm.
Die allgemeinen Empfehlungen zur Verringerung
der Corona-Ausbreitung angesichts
der steigenden Zahl der Neuinfektionen
wurden verschärft und auf weitere
Landesteile ausgeweitet: In den betroffenen
Regionen werden die Menschen in
den kommenden Wochen dazu aufgefordert,
Kontakt mit Personen aus anderen
Haushalten, den Nahverkehr und Veranstaltungen
wie Konzerte oder sportliche
Wettkämpfe zu meiden. Geschlossen
wird allerdings nichts: In der Fußgängerzone
der betroffenen Stadt Linköping
(rund 100.000 Einwohner) beispielsweise
herrschte am vergangenen Wochenende
fast Normalbetrieb, so die Einzelhändler.
Restaurant, Café- und Barbetreiber
berichten allerdings von einem
Einbruch der Gästezahlen: „Am Samstag
sind wir üblicherweise komplett voll,“
sagt ein Kellner in der Sportsbar „shooters“,
während gerade der Bundesligaknaller
Dortmund – Bayern übertragen
wurde, „heute sind wir bei 60 bis 70 Prozent.“
Eine Verschärfung: In Restaurants
dürfen nur noch acht Personen (auch
aus acht Haushalten) zusammen an einem
Tisch sitzen. Dafür sind jetzt wieder
Veranstaltungen mit bis zu 300 Besuchern
erlaubt (vorher 50). Masken sind
weiterhin drinnen wie draußen nicht zu
sehen, eine Pflicht stand für Tegnell nie
zur Debatte, „da wir nicht glauben, dass
Erwachsene oder gar Kinder Masken so
handhaben, dass sie am Ende auch nützlich
sind.“ Einen wissenschaftlichen Beleg
zum Nutzen der Masken gäbe es auch
nicht, so Tegnell.
Dr. Sebastian Rushworth, tätig in der
Notaufnahme einer der größten Kliniken
Stockholms, und damit im Zentrum des
schwedischen Corona-Sturm im April,
kann über die erneut verhängten Lockdowns
in Mitteleuropa nur noch den Kopf
schütteln. Der Mediziner betreibt einen
englischsprachigen Internetblog4, wo er
evidenzbasierte medizinische Erkennt