vor die Bundesregierung über die Öffnung
der Grundschulen entscheiden wollte. Und
kaum einer erhob die Stimme, um zu hinterfragen,
ob diese Stichprobe und die Art
der Studie geeignet sei, die Bewertungen
von Drosten nachzuvollziehen. Und interessanter
noch, unterließen es die Journalisten,
all jene Studien einzubeziehen, die
auf Grundlage einer viel größeren Datenbasis
entstanden waren. Diese Studien – unter
anderem aus China – belegten das Gegenteil
dessen, was Drosten mit seiner kleinen
Stichprobe nachzuweisen glaubte oder
nachweisen wollte oder sollte. Auch die Reaktion
anderer Wissenschaftler und Kinderärzte
wurden in der Presse nicht erwähnt.
Der zweite bekannte Fall der Diskreditierung
ist der Umgang mit Dr. Wolfgang Wodarg.
Anstatt sich mit den Quellen und Aussagen
von Dr. Wodarg kritisch auseinanderzusetzen
und zu hinterfragen, auf welcher
Grundlage Wodarg seine Bewertungen abgegeben
hat, setzen die Medien alles daran,
Wodarg als Person zu diskreditieren.
Die Art und Weise, wie Wodarg hier in den
Kontext von Spinnern und Verschwörungstheoretiker
gestellt wird, ist beeindruckend
– und im eigentlichen Sinne ekelhaft. Unverhohlen
unternehmen etliche Medien und
selbsternannte „Faktenchecker“ die Unterhöhlung
seiner Kompetenz und nutzen dabei
jene Werkzeuge und sprachlichen Muster,
wie wir sie aus den dunkelsten Kapiteln
unserer Vergangenheit kennen. Man beraubt
ihn (wie andere renommierte Wissenschaftler
auch) seiner Reputation. In Veröffentlichungen
des SPIEGEL wird er als
„pensionierter Pneumologe“ (SPIEGEL ONLINE
20. März 2020) bezeichnet. Als würde
sich da ein seniler Ex-Arzt zu Wort melden.
Wodarg hat die Facharztqualifikationen für
Lungen- und Bronchialkunde erworben, ist
Arzt für Hygiene und Umwelt-Medizin und
Arzt für Sozialmedizin. Er war 1991 Stipendiat
für Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
an der John Hopkins University, Baltimore/
USA (evaluation of health programs)
– einem der weltweit führenden Institute für
epidemiologische Fragen, lehrt noch immer
an der Universität Flensburg und der Alice
Salomon-Hochschule in Berlin. Er lehrte
zuvor an der Charité und anderen Hochschulen
Europas, seine Themen waren und
sind Forschung und Ethik, Gesundheitswesen
und soziologischen Fragen aus dem Gesundheitswesen
und andere mehr. In vielen
weiteren Bereichen seiner Arbeit als SPDAbgeordneter,
als Mitglied der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates sowie
vielen anderen Fachgremien bewies
er in jahrzehntelanger Arbeit seine Kompetenz,
seinen ausgewogenen Blick, seine
ethische Position und seine ruhige und
vermittelnde Haltung in politischen und Gesundheitsfragen.
Wer sich mit Wodarg befasst,
wird feststellen, dass er bereits in
der Vergangenheit bei anderen vermeintlich
tödlichen Bedrohungen durch Pandemien
die verfügbaren wissenschaftlichen
Daten richtig interpretierte.
Journalistische Methoden
aus dunkelsten Zeiten
Aufgabe der Journalisten wäre es, die Antithesen
der Kritiker gründlich und sachlich
zu prüfen. Dazu müssten sie die Datenquellen
untersuchen und die wissenschaftlichen
Interpretationen der Fakten
nachvollziehen, sie müssten andere unabhängige
Wissenschaftler befragen, um herauszufinden,
inwieweit Dr. Wodargs Annahmen
und Analysen zutreffend sind oder
nicht. Interessanterweise ersparen sich die
meisten Kollegen diese Mühe und greifen
zu einem anderen Stilmittel. Statt der inhaltlichen
Analyse stellen sie Wodarg und
andere Wissenschaftler einfach in den Kontext
von verwirrten Menschen: „Wodarg argumentiert
geschickt. Viele seiner grundsätzlichen
Aussagen sind korrekt. Damit
schafft er Vertrauen, selbst bei Leuten, die
sich mit medizinischen Sachverhalten auskennen.
Seine Schlussfolgerungen wirken
schlüssig, bleibt man in seiner Logik. Dass
seine Videos mit Vorsicht zu genießen sind,
erkennt man bei genauem Hinsehen aber allein
schon an den YouTube-Kanälen, in denen
sie erschienen sind. Der eine verbreitet
neben Wodargs Thesen Verschwörungstheorien
aus dem Reichsbürgermilieu, es geht um
Chemtrails und Satan.“
Was ist hier gelungen? Statt auf die inhaltliche
Argumentation von Dr. Wodarg einzugehen,
konstruiert die SPIEGEL online Autorin
Julia Merlot eine Nähe zu Verschwörungstheoretikern
aus dem Reichsbürgermillieu.
„Nun erklärt der Mann in zwei Videos
auf YouTube“ – Merlots Sprache ist entlarvend.
Ihre inhaltlichen Einwände strotzen
vor fachlicher Schwäche und fehlender
Quellenarbeit. „Der Mann“, den sie hier
despektierlich verkleinert, erklärt nicht nur
in Videos, was er denkt. Er liefert zu seinen
Aussagen auf seiner Webseite www.wodarg.
com auch Hintergründe und Verweise
auf Daten, Studien und ungelöste Fragen
der aktuellen Corona-Bewertungen. Nicht
anders als Julia Merlot verfährt der 1973
geborene Kognitionspsychologe Christian
Stöcker von SPIEGEL online. Er verzichtet
ebenso wie seine Kollegin auf ein vertieftes
Quellenstudium und versteigt sich dazu,
am 22. März 2020 zu schreiben: „Der
unglücklicherweise öffentlichkeitswirksamste
Vertreter der ‚hier gibt es nichts zu sehen,
gehen Sie bitte weiter‘-Position ist der pensionierte
Pneumologe Wolfgang Wodarg. Seine
verantwortungslosen Einlassungen scheinen
derzeit leider ein großes Publikum zu finden.
Es ist das zweite Mal innerhalb kurzer
Zeit, dass ein einzelner Lungenfacharzt den
globalen wissenschaftlichen Konsens nonchalant
infrage stellt. Dabei verbreitet Wodarg
nachweislich Unsinn: Covid-19 ist aus
einer Reihe von Gründen sowohl ansteckender
als auch tödlicher als eine normale Grippeepidemie.“
Auch hier wieder das gleiche Muster der
auf Diskriminierung abzielenden Rhetorik:
Stöckers Aussagen sind „der pensionierte
Pneumologe“, „ein einzelner Lungenfacharzt“,
„nachweislich Unsinn“. Zum
einen führt eine Pensionierung eines Mediziners,
eines Facharbeiters oder Angehörigen
eines anderen Berufes nicht gleich
zu seiner Verblödung – diese Wortwahl ist
dumm, diskriminierend, unsachlich und unverschämt.
Zum anderen ist Wodarg weiterhin
als Experte und Lehrender tätig. „Einzeln“
ist Wodarg schon überhaupt nicht in
der Wissenschaftswelt. Hätten Stöcker und
andere Autoren den Blick einmal über den
Tellerrand von Drosten und RKI angehoben,
wären sie auf zahlreiche Ärzte und Wissenschaftler
gestoßen, die ähnliche Analysen
anboten und diese auch belegen können.
Die schwerste Behauptung ist indes
die vom „nachweislichen Unsinn“. Erstens
bleibt Stöcker den Nachweis des Unsinns
schuldig. Seine Behauptungen zur Verbreitung
und Tödlichkeit des Virus waren bereits
am 22. März 2020. durch die Zahlen
des RKI und anderer nationaler und internationaler
Quellen widerlegt. Man hätte sie
nur lesen müssen.
Hinzu kommt die unerträgliche Falschverwendung
der Begriffe durch Autoren wie
Stöcker, die sich in der Corona-Zeit als
besserwissende Vertreter einer journalistischen
Justiz aufspielten, ohne dabei ihrer
Sorgfaltspflicht nachzukommen. Munter
werden dort Erkrankung und Fälle und
Infekte durcheinandergeworfen. Auch die
Statistiken trugen die falschen Bezeichnungen.
Positiv auf SARS-CoV-2 getestete liefen
unter COVID19-Fälle. Da COVID19 die
manifeste Erkrankung sein sollte, suggerierten
die Daten ein völlig falsches Bild. Infiziert
heißt eben nicht krank. SARS-CoV-2
positiv heißt eben nicht COVID19. Und
SARS-CoV-2 positiv im Moment des Todes
heißt nicht „an COVID19 erkrankt und daran
gestorben“. Es bedeutet, wie Pathologen
in der ganzen Welt seit Anfang April wissen:
Alte und kranke Menschen sterben an vie-
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