V or langer, langer Zeit trug es sich
zu, dass einem alten König von einem
gefährlichen fremden Wesen
in einem fernen Kontinent Kunde überbracht
wurde. Es sei völlig anders als alle
Tiere, die in seinem Land bisher bekannt
waren. Der Sicherheit seines Landes verpflichtet,
beschloss er, seine besten Gelehrten
auszusenden, dieses Wesen, das
die Bezeichnung „Elefant“ trug, zu erforschen.
Leider waren alle Gelehrten blind
(doch dieser Umstand sollte auch in späteren
Zeiten und Kulturen weder wissenschaftlichen
noch politischen Karrieren
im Wege stehen). Die Forschungsreise
ward dank großzügiger Unterstützer bald
von Erfolg gekrönt: Man fand in einem
kleinen Dorf einen gezähmten Elefanten.
Die Gelehrten scharten sich um das
Tier, um es genauestens zu erforschen.
Der erste ergriff ein Bein des Elefanten,
umfasste es und konstatierte: „Ein Elefant
ist ein Tier wie eine mächtige Säule,
rund, lang und sehr hoch!“. Doch sofort
ertönte Widerspruch seitens des Kollegen,
der ein Ohr zu fassen bekommen
hatte: „Nein, nein, ein Elefant ist wie ein
riesiger flacher Fächer, ich halte den Beweis
hier in meinen Händen!“. Der dritte
Gelehrte, welcher den Rüssel gepackt
hielt, referierte: „Daran darf nicht gezweifelt
werden: Ein Elefant ist wie eine
sehr lange, starke Schlange. Meine Referenzen
in der Schlangenforschung sind
Ihnen sicherlich bekannt!“
Empörung lag in der Stimme des vierten
Gelehrten, der den nervös zappelnden
Quast des Schwanzes ausgiebig betastet
hatte: „Meine Studien haben zweifelsfrei
ergeben, dass es sich um einen
kleineren Verwandten der Wuhan-Bisamratte
handelt!“ Es entspann sich ein wissenschaftlicher
Diskurs, dessen Duktus
dem inzwischen vom Begrabschen
ohnehin entnervten Elefanten unangenehm
aufstieß. Er verließ den Platz, was
AUF DER
SUCHE NACH DER
VERLORENEN
WAHRHEIT
Oder: In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders
Entschuldigung, darf ich kurz näherkommen?
Oh – Dankeschön, sehr freundlich
von Ihnen! Ich brauche halt gerade etwas
Nähe. Sie auch? Diese Mindestabstände
überall... aber hier können wir ja etwas
vertraulicher werden, das ist gut.
Überhaupt... alles ist momentan so... lebensgefährlich.
Wie geht Ihnen das? Mit
dieser Gefahr überall? Mir geht es da gar
nicht so gut. Permanent Warnungen von
allen Seiten. Die Menschen voller Sorgen
und Ängste, zum Teil auch Aggressionen,
aber hier sind wir ja unter uns, das ist beruhigend,
also für mich jetzt gerade...
Wenn ich mich Ihnen kurz vorstellen darf:
Ich bin 54, w., Naturwissenschaftlerin mit
einer großen Liebe: der Wahrheitssuche.
Oh, ich liebte diese Suche schon immer,
vom ersten kleinen Mikroskop bis zur
komplexen Statistik, immer fand ich es,
wie Spock vom Raumschiff Enterprise
es so treffend sagte, „faszinierend“. Wie
sind die Dinge wirklich? Und wenn sich
dieser Frage eine Vielzahl von kühlen,
klugen Köpfen miteinander widmete, auf
gemeinsamer Suche nach Wirklichkeit
und Wahrheit – faszinierend! Mit klarem
Denken unbekannte Sphären erkunden,
Licht ins Dunkel bringen – auch irgendwie
beruhigend für mich, ungefähr wie damals,
als man mit der Taschenlampe unters
Bett leuchtete, um festzustellen: definitiv
kein Krokodil drunter (aber vielleicht
ein vermisstes Lego-Teilchen, super, hatte
sich doch gelohnt, nachzusehen!).
Was ich in meinem Studium ebenfalls
lernte: wann unser prachtvolles galaxienartiges
Gehirn dabei am besten seinen
Dienst verrichtet, nämlich unter angstfreien
Bedingungen, mit freien, unvoreingenommenem
Blick und vor allem in der
Verbindung mit anderen kooperierenden
klugen, kühlen Köpfen mit anderen wertvollen
Perspektiven. Klasse war das.
Habe ich da gerade „war“ geschrieben?
Tatsächlich – ach, ich will nicht vorgreifen,
Entschuldigung, haben Sie noch ein
wenig Geduld mit mir, ich bin noch so beunruhigt
von diesen vielen Warnungen, bitte
bleiben Sie noch ein wenig bei mir! Vielleicht
könnte ich mich mit einer Geschichte
etwas beruhigen, eine mit Happy End,
gute Geschichten haben mich immer beruhigt.
Ja – ich erzähle uns die Geschichte
einer Wahrheitssuche. Machen Sie es
sich bequem, sie wird Ihnen auch gefallen!
AU F D E R S UC H E N ACH D E R V E R L ORENEN W AHRHEI T
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von Dipl. Psych. Susanne Begerow