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DAS VERSAGEN
DER JUSTIZ
Die Judikative verschwand im Corona-Schützengraben
Ist es gerechtfertigt, den Juristen an den Gerichten vorzuwerfen, sie hätten erst gar nicht, dann zu zögerlich reagiert, als die
Exekutive mit drakonischen Maßnahmen die Zerstörung der Gesellschaft in Angriff nahm? Darf man Richtern, die selbst auch
„nur“ Menschen sind, nicht zugestehen, dass die mediale Wucht, mit der Corona über uns gebracht wurde, nicht auch sie verstummen
lassen durfte? Oder hätten wir erwarten müssen, dass die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte in Anbetracht der
monumentalen Eingriffe in die Grundrechte die angewendeten Normen und die Art ihrer Anwendung hätten überprüfen oder
im Zweifel ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht einleiten müssen?
Verunsicherung: Was menschlich vielleicht
verständlich sein könnte, ist es juristisch
aber nicht. Die Gewaltenteilung
ist eines der zentralen Elemente unserer
demokratischen Gesellschaft. Nach Ausrufung
des Seuchennotstands war die Gewaltenteilung
in wesentlichen Bereichen
aufgehoben, weil nunmehr die Exekutive
über Verordnungen und nicht mehr die
vom Volk gewählten Parlamentarier – die
Legislative – über Gesetze die Geschicke
des Landes und der Länder bestimmten.
Die neue Regierungsform beschreibt die
Bundesregierung selbst als „das kleine
und das große Corona-Kabinett“1 – eine
Regierungsform, welche die Verfassung
nicht kennt. Ebenso wenig kennt die Verfassung
einen pseudoföderalen Staatsrat,
der mit Kanzlerin und Ministerpräsidenten
besetzt ist und Entscheidungen
über das gesamte Volk, seine Gesundheit
und sein Vermögen trifft. In dieser
Situation war der Schutz der Bevölkerung
vor Grundrechtsverletzungen durch
die Anwendung der Notstandsverordnungen
nicht mehr gegeben – die Überprüfung
der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen
der Exekutive lag ausschließlich
Wolfgang Jeschke
in der Hand der Gerichte. Sie waren und
sind die letzte Bastion des Rechtsstaates
gegen eine mit Übermaß und Unverhältnismäßigkeit
regierende Exekutive.
Das Infektionsschutzgesetz ist ein Gesetz
für kurzfristige Notlagen. Es soll die
Handlungsgeschwindigkeit erhöhen, welche
in einer echten Krise möglicherweise
mit debattierenden Parlamenten nicht
erreicht werden könnte. Eine solche Notlage
hat es aber zu keinem Zeitpunkt gegeben,
wie die tatsächlichen Ereignisse
zeigen. Die Feststellung und Aufrechtervon
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