Unser Gesundheitssystem ist darauf
spezialisiert, die Folgen von Krankheit
einzudämmen und im Notfall Leben
zu retten. Beides ist nötig und in vielen
Fällen ein Segen. Der Fokus liegt darauf,
durch Krankheit entstandene Symptome
zu beherrschen, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit
zu gewährleisten. Doch in
einem Gesundheitssystem, in dem Krankheit
ein lukratives Geschäft ist, haben wir
den Blick dafür verloren, Gesundheit aktiv
zu pflegen und damit zu erhalten. Das
Wissen um Gesundheitspflege ist gar
nicht mehr Teil unserer Kultur. Die Fähigkeit
der Selbstwahrnehmung, als Grundlage
der eigenen Gesundheitspflege, ist
nicht mehr selbstverständlich.
Im Gespräch: Mareyke Strothmann. Die
Heilpraktikerin absolvierte ihre achtjährige
Ausbildung in der Naturheilkunde, Homöopathie
und der Traditionellen Chinesischen
Medizin durch Studiengänge in
Hamburg, Berlin und auf Island. Sie betreibt
ihre Praxis in Himmelpforten im
Landkreis Stade.
In wachsender Zahl fordern
Ärzte, Heilpraktiker und
Psychologen eine Änderung in
unserem Gesundheitssystem.
Der Mensch soll wieder selbst
mehr Gesundheitskompetenz
erlangen. Was stimmt nicht an
unserem Gesundheitssystem?
Unser Medizinsystem lädt dazu ein, die
Verantwortung für unsere Gesundheit
abzugeben. Nach dem Motto: „Der Arzt
muss es richten, die Kasse bezahlt, gesund
zu sein, ist Glückssache.“ Erhöhter
Blutdruck ist in der Leistungsgesellschaft
akzeptiert, Wechseljahresbeschwerden
sind inzwischen normal. Es ist bekannt,
dass Diabetes durch Fehlernährung und
längerfristige Stressbelastung begünstigt
wird. Priorität hat aber das bessere
Einkommen, Völlerei wird zur Belohnung
und schließlich gibt es Medikamente dagegen.
Hormonsubstitution, Blutdruckmittel,
Schlafmittel, Antidepressiva, Kortikosteroide
und Schmerzmittel sind
zur Standardmedikation unserer Gesellschaft
geworden. Ohne diese Medikamente
könnte unsere Gesellschaft wohl
nicht bestehen, in der wir Leistung gegen
Konsum tauschen. Dabei sollte Gesundheit
das höchste Gut sein. Wir haben nur
diesen einen Körper, der unserem Geist
die Wohnung gibt.
Also mehr gesunde Ernährung,
frische Luft und Sport?
Für eine gesunde Gesellschaft brauchen
wir eine Kultur der Gesundheitspflege.
Bio essen und zum Sport zu gehen, ist
löblich und beruhigt das Gewissen. Tatsächlicher
Erhalt von Gesundheit geht
weit darüber hinaus. Dazu braucht es
Selbstwahrnehmung: An welcher Stelle
läuft mein System nicht rund, wo braucht
es Unterstützung, wo ist Regulation nötig,
damit kein Schaden entsteht? Unser
System, der ganzheitlich betrachtete
Mensch, mental, emotional und körperlich,
hat ausgesprochen viel Regenerationskraft.
So ist der Schlaf die wichtigste
Regenerationsphase. Auf mentaler und
emotionaler Ebene wird verarbeitet, körperlich
wird repariert, die Energiereserven
werden aufgefüllt. Doch viele Menschen
schlafen nicht erholsam, aber kommen
doch irgendwie zurecht – auf Kosten
der eigenen Gesundheit. Erst bei einer
manifesten Schlafstörung wird nach Behandlung
gesucht. Ebenso viele Menschen
leben mit Schmerzen hier und da
ein wenig, aber es geht schon irgendwie.
Sie nehmen dann Schmerztabletten und
machen weiter – auf Kosten der eigenen
Gesundheit. Und dann ist da noch dieser
Kummer, der schon seit Jahren nagt, ein
zu großer Schmerz, also wird lieber weitergemacht
wie bisher – auf Kosten der
eigenen Gesundheit.
Wie muss sich
die Sichtweise verändern?
Unser Medizinsystem kümmert sich um
Krankheit, wenn Gesundheit nicht mehr
Ziel ist. Wir brauchen aber ein integratives
Gesundheitswesen, das den Erhalt von Gesundheit
anstrebt, dahin die Aufmerksamkeit
und Forschung richtet und wenn nötig,
in der Lage ist, Krankheit zu behandeln.
Gesunderhaltung würde damit beginnen,
zu fragen: nehme ich so viel Energie
auf, wie ich für mein alltägliches Leben
brauche? In der Traditionellen Chinesischen
Medizin gibt es unterschiedliche
Quellen für Lebensenergie. Die Nahrung
ist natürlich ein wichtiger Teil: Hochwertige
Nahrung, möglichst wenig belastet
durch Fremdstoffe, abgestimmt auf die
Bedürfnisse des Einzelnen sowie auf notwendige
Regulation. Die 5-Elemente-Ernährung
der Traditionellen Chinesischen
Medizin ist sehr komplex, mit dem Ziel,
Gesundheit wiederherzustellen und zu
erhalten. Ebenso wichtig und in unserem
Denken kaum mehr vorhanden: 50 % unserer
Energieaufnahme findet über die Atmung
statt. In der Traditionellen Chinesischen
Medizin sind Atemtechniken ebenso
wichtig wie die Nahrungsaufnahme.
Diese Quelle der Energieaufnahme findet
in unserer Kultur nur unbewusst statt,
ist also sehr reduziert. Zusätzlich ist jeder
Mensch mit einer Reserve, dem „vorgeburtlichen
Qi“ ausgestattet. Dies ist
Lebensenergie, die von den Eltern mitgegeben
wurde. In der TCM gilt es, diese
Energie zu schützen, um gesund alt
zu werden. Es bedarf also einer bewussten
Pflege der eigenen Lebensenergie.
Da dies in unserer Gesundheitskultur
nicht stattfindet, laufen viele Menschen
auf dieser Reserveenergie. Das Ergebnis
davon sind Erschöpfung, Depression und
Krankheit.
Welche Rolle spielt die
zunehmende Vereinzelung
der Menschen in der
modernen Gesellschaft?
Eine Quelle für Energie sind inspirierende,
soziale Kontakte. Gemeinsamkeit belebt.
Freude und Leidenschaft für das, was wir
tun, belebt. So ist eine wichtige Ursache
für das Phänomen des Burn-outs der Verlust
von Freude an dem, was wir tun. Oft
ist der Alltag zu eng, um Visionen zu entwickeln
und diese mit Leidenschaft umzusetzen.
Diese Ernüchterung nimmt viel
Lebensenergie. In der alten Chinesischen
Medizin werden alle alltäglichen Dinge
unter Aspekten der Gesundheit betrachtet,
sogar die Praktiken des Liebesspiels.
Es geht auch um die eigene
Energiehaushalt?
Ja. Der mangelnden Energieaufnahme
und dem Verlust an Geschmeidigkeit
steht ein erhöhter Verbrauch gegenüber.
Die Nahrung ist durch Toxine aller Art belastet,
der Nährwert ist durch Verarmung
der Böden reduziert. Die Atemluft ist durch
Feinstäube belastet. Kleidung und Kosmetika
sind mit zahlreichen Giftstoffen produziert.
Medikamente haben schwerwiegende
Nebenwirkungen. Grundwasser wird
verunreinigt. Soziale und wirtschaftliche
Unsicherheit belastet mental und emotional.
Besonders in diesem Jahr sorgen Verunsicherung
und Angst für eine Schwächung
der Gesundheit.
Macht uns
unser Lebensstil krank?
Die gesundheitsschädlichen Faktoren
sind zum großen Teil menschengemacht.
Ist es gesund, in natürliche Prozesse einzugreifen
und zu welchem Preis? Diese
Frage sollten wir immer stellen, in der
Nahrungsmittelindustrie, in der Textilindustrie,
bei der Energiegewinnung und
bei der Kommunikationstechnologie,
auch in der Medizin und in vielen anderen
Bereichen. Diese Frage verlangt immer
nach einer Antwort.
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