DER FALL ASSANGE:
Unser Schweigen,
unsere Komplizenschaft
Der Fall Julian Assange ist kein Prozess. Es ist ein Fuck up.
Wenn Assange ausgeliefert wird, ist der investigative Journalismus tot.
Dies sollte einmal ein Prozessbericht
werden. Es ging nicht. Einmal wegen
Corona und auch weil letztlich
aus London nie eine Akkreditierung kam.
Der Prozess gegen Julian Assange ist ein
Unfall mit Ansage. Ein vorsätzlich herbeigeführter
Unfall. Und deshalb ist dies ein Unfallbericht.
Gerade läuft in London ein Jahrhundertprozess.
Gut, es ist wenigen aufgefallen, denn
viel berichtet wird nicht. Es passiert nicht
häufig, dass in der westlichen Welt ein Journalist
vor Gericht steht, der seit Jahren Informationen
über Kriegsverbrechen, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, Massenüberwachung,
Korruption und sonstige
Missstände von öffentlichem Interesse veröffentlicht
– und dafür angeklagt ist. Das
sind Dinge, die eigentlich in Zeitungen enthüllt
gehören.
MIT LICHT GEGEN FÄULNIS
Es sind Dinge, die hin und wieder auch mal
in Zeitungen standen oder stehen, so wie
die Enthüllungen von Daniel Ellsberg über
die Pentagon Papers, die Missstände des
Vietnam-Krieges oder die Snowden-Enthüllungen.
Doch das könnte bald Geschichte
sein, sollte Assange verurteilt werden. Der
Preis für die Veröffentlichung von wahren
Informationen – Wikileaks hat nachweislich
noch nie eine Falschinformation veröffentlicht
– wird zu hoch sein. Momentan beläuft
sich der Preis auf 175 Jahre Haft. Assange
soll in die USA ausgeliefert werden, wo
er wegen Spionage angeklagt ist, gestützt
auf ein Gesetz von 1917. Es wäre ein Präzedenzfall,
eine Überschreitung sämtlicher
Grenzen.
Julian Assange ist eine Person, in der auf besondere
Weise die Zeitläufte zusammenlaufen.
Er ist Herz und Kopf einer Organisation,
die Informationen von öffentlichem Interesse
veröffentlicht, er ist Verantwortlicher eines
Geheimdiensts der Bürger. Assange ist
schon als vieles bezeichnet worden, aber
am ehesten ist er ein nomadischer Transparenzphilosoph
und Maschinenstürmer, der
mit einem selbstgebauten Programm Licht
auf unangenehme Wahrheiten wirft und damit
auch das Selbstverständnis der westlichen
Welt in Frage stellt. Er ist ein anarcho
von Milosz Matuschek
libertärer Denker, ein Aktivist, der mit
technologischen und journalistischen Mitteln
Wahrheiten in den öffentlichen Raum
befördert.
Herrschaft braucht aus seiner Sicht Verschwörung.
Es gibt keine Herrschaft weniger
über viele ohne Absprachen. Julian Assange
hasst die Verschwörung der Mächtigen
gegen die Vielen. Sie ist ein Verrat
an der Demokratie. Und er hat sich vorgenommen,
die Verschwörung zu zerschlagen.
Wenn die Informationen zwischen Verschwörern
nicht mehr fließen, weil ihre Kanäle
zerstört sind, werden Absprachen
zwangsläufig weniger, da Sie zu einem Risiko
werden, bis sie schließlich (so die Hoffnung)
gegen Null gehen. Verschwörung
lässt sich laut Assange1 durch Transparenzdrohung
eindämmen.
DER TRANSPARENZREVOLUTIONÄR
Assange brauchte für seine Revolution kein
lautstarkes Manifest. Wikileaks war sein
Manifest. Wikileaks ist ein Asyl für geheime
Informationen. Es funktioniert wie eine
Babyklappe im Internet. Ein unzensier-
44