zähler in den Mund. Und dies sicher nicht,
um unterschwellig rassistische Äußerungen
zu verbreiten. Sie stehen im auffälligen
Gegensatz zu dem Prinzip, das den ganzen
Roman bis in seine feinsten Verästelungen
durchzieht – dem Knopf-Prinzip:
Auf der kleinen Insel Lummerland wohnen
neben König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften
der Lokomotivführer Lukas, die Ladenbesitzerin
Frau Waas und Herr Ärmel. Eines
Tages bringt der Postbote ein Paket. Darin
befindet sich ein kleines schwarzes, namenloses
Baby. Das Waisenkind bekommt von
Lukas den Vornamen Jim. Frau Waas nimmt
sich Jim liebevoll an und zieht ihn groß. Jim
spielt ausgiebig und reißt sich dabei ständig
die Hose auf. Frau Waas flickt das Loch
wieder und wieder. Eines Tages kommt sie
auf die Idee, die für den Roman eine Schlüsselszene
darstellt: Sie näht einen Knopf an.
Er erlaubt es, das Loch aufzuknöpfen, anstatt
es einzureißen, und zuzuknöpfen, anstatt
es wieder und wieder zuzunähen. Jim
kommt so zu seinem Nachnamen und wird
zu Jim Knopf. Dieses von Frau Waas erdachte
Prinzip des Zuknöpfens und Aufknöpfens
anstelle des Zunähens durchdringt als Analogie
und Gegensatz den ganzen Roman.
Verflixt und zugenäht
Geraten Jim und Lukas auf ihrer Abenteuerreise
in scheinbar ausweglose, ja lebensbedrohliche
Situationen, hören wir Lukas jedes
Mal „Verflixt und zugenäht“ ausrufen.
Das Verflixt und Zugenähte ist das Gegenteil
des Knopf-Prinzips. Es ist das Geschlossene,
Ausweglose, Unlebendige, dem Tode
Verwandte. Kummerland ist verflixt und zugenäht!
Es ist die geschlossene, „reinrassige“
Drachenstadt, in der Kinder gefangen
gehalten werden und den Worten der Drachen
Lehrerin Frau Malzahn nicht widersprechen
dürfen. Ja, auch Sprache kann
verflixt und zugenäht sein, indem sie keine
anderen Stimmen, keinen Widerspruch duldet
und andere zu Objekten macht. Es ist
die Sprache der Ideologie.
Das Knopf-Prinzip:
Binden und Entbinden
Michael Endes Roman spricht eine andere
Sprache. Es ist eine Sprache der Beziehungen.
Man kommt ihr näher, indem man zwischen
den Worten, Personen, Situationen
und Handlungen Verbindungen herstellt.
Auf diese Weise entbindet man die Sprache
ihrer vermeintlich eindeutigen, objektiven
Bedeutungen. Man wird ihr keinesfalls
gerecht, indem man einzelne Worte, Personen,
vermeintliche Klischees etc. isoliert,
einschließt, sie „zunäht“ und einer objektivierenden
Betrachtung unterzieht. Auch eine
feministische Kritik versäumt es oft, den
Beziehungen nachzugehen. So wurden die
stereotypen Frauenrollen in Jim Knopf kritisiert:
Frau Waas als behütendes Hausmütterchen.
Li Si, die gerettete Prinzessin, die
ein Waschbrett zur Verlobung geschenkt
bekommt. Auch hier haben die Kritiker aus
ihrer kritischen Perspektive wieder recht.
Doch geht es in Romanen nicht ums Recht
haben, sondern um Beziehungen. Frau
Waas steht im Roman für das Prinzip, das
Jim und Lukas ihre Abenteuer bestehen
lässt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes
das allem übergeordnete Lebensprinzip. Jim
Knopf hat es verinnerlicht. Es ist das Knopf-
Prinzip, das Prinzip des Bindens und Entbindens.
Jim Knopf handelt auf seinen Abenteuern
nach dem Prinzip, dem er seinen
Namen verdankt.2 Das zeigt sich beispielsweise
in folgenden Situationen:
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
befreien auf ihrer Abenteuerreise die Prinzessin
Li Si aus den Fängen des Drachens
Frau Malzahn. Anders als in den europäischen
Drachentöter-Mythen töten sie den
Drachen jedoch nicht, sondern fesseln
(binden) ihn. Der Drache verwandelt sich
allmählich in einen Goldenen Drachen der
Weisheit3. Jim und Lukas lassen ihn wieder
frei (entbinden ihn). Bald erweist er ihnen
durch geheimnisvolle Weissagungen wichtige
Dienste: „Du aber mein kleiner Gebieter,
nachdem du sie die Wilde 13 durch ihre
eigene Kraft und ihre eigene Schwäche gebunden,
entbindest sie ihres Irrtums“. Jim
wird im weiteren Verlaufe die Wilde 13, die
gefährliche Piratenbande fesseln (binden),
sie jedoch nicht töten. Die Piraten wandeln
sich daraufhin zu den Zwölf Unbesiegbaren4.
Jim lässt sie frei.
Das Kristall der Ewigkeit:
Verbindung aus Feuer und Wasser
Eine der größten Herausforderungen für Jim
und Lukas auf ihrer Abenteuerreise ist es,
den Meerwesen dabei zu helfen, das „Kristall
der Ewigkeit“ wieder herstellen zu können.
Das Meerwesen Uschaurischuum ist
zwar im Besitz des Wissens, wie man das
Kristall herstellt. Er kann es jedoch nicht alleine
herstellen, sondern nur in Verbindung
mit einem Feuerwesen. Das Problem: Feuer
und Wasserwesen sind seit tausend Jahren
verfeindet. Wird es Jim und Lukas gelingen,
die abgebrochene Verbindung zwischen
Feuer- und Wasserwesen wieder
herzustellen? Zur Verlobung5 bekommt Jim
von Prinzessin Li Si eine Pfeife geschenkt,
Jim schenkt ihr ein Waschbrett. Feuer und
Wasser! Nur ein Zufall? Nein! Lukas Lokomotive
Emma: Feuer und Wasser! Wieder
Zufall? Nein! Drachen: Feuer! Piraten: Wasser!
Noch ein Zufall? Natürlich nicht!
Es lohnt sich, auf vorschnelle Urteile zu
verzichten und den Beziehungen in literarischen
Texten nachzugehen. Dies kann mitunter
eine Lebensaufgabe sein. Denn mit
Texten von „echten“ Schriftstellern sind wir
niemals fertig. Literatur ist wie der Kristall
der Ewigkeit – unzerstörbar, ewig und transparent.
Jim und Lukas verbinden die zwei
Pole der Eisernen Klippen mit dem Kristall
und bringen das dunkle Barbarische Meer
zum Leuchten. Der Leser, der die Mühe des
Verbindens auf sich nimmt, kann den Text
zum Leuchten bringen. Alles in ihm macht
dann Sinn.
Anmerkungen
(1) darunter die Dekonstruktion und die Diskursanalyse als die populärsten
Kritiken • (2) Namen können in Endes Roman sowohl Vermächtnis
als auch Verhängnis sein. Das Umbenennen (Entbinden-
Binden) spielt eine wichtige Rolle, wie die Beispiele Drachen und Piraten
zeigen! • (3) Dies erinnert an die asiatischen Drachenmythen.
(4) Sie werden zudem von der Last ihres falschen Namens entbunden.
• (5) Loslösung von Frau Waas (Entbinden), Bindung an Prinzessin
Li Si
Der Autor, Pädagoge und
Literaturwissenschaftler, hat in
den vergangenen zehn Jahren als
Lektor des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) am Lehrstuhl
für germanische Philologie der
Taras-Schewtschenko-Universität
Kiew gearbeitet. Zurzeit ist er als freier
Übersetzer aus dem Russischen und
Ukrainischen tätig.
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