Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung
über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht
die besseren Argumente zählen, sondern
zunehmend zur Schau gestellte Haltung
und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken
machen sich breit. Das Denken
in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten
bestimmt die Debatten – und verhindert
dadurch nicht selten eine echte
Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn.
Lautstarke Minderheiten von Aktivisten
legen immer häufiger fest, was wie
gesagt oder überhaupt zum Thema werden
darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten
begann,
ist inzwischen
in Kunst und Kultur,
bei Kabarettisten
und Leitartiklern angekommen.
Die Grenze des Erträglichen
ist längst
überschritten. Inzwischen
sind die demokratischen
Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum
ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen,
wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens
sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers.
Prozesse selbst bedroht.
Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum
ist die Wesensgrundlage eines
jeden künstlerischen, wissenschaftlichen
oder journalistischen Schaffens
sowie die Basis für die Urteilskraft eines
jeden Bürgers. Ohne unverstellten Zugang
zu Informationen keine unverzerrte
Urteilsfindung, keine wohlbegründete
Entscheidung und keine funktionierende
Demokratie. Wie wollen wir in Zukunft
Sachfragen von öffentlichem Interesse
behandeln? Kuratiert und eingehegt –
oder frei?
In einer freien Gesellschaft ist das gezielte
Ausüben von Druck auf Intellektuelle,
Künstler und Autoren und auf jeden, der
eine Meinung äußert, die dem aktuell Akzeptierten
widerspricht, sowie auf Veranstalter,
Verleger oder Arbeitgeber eine inakzeptable
Anmaßung. Weder der Staat
noch andere, seien es Einzelne oder eine
Gruppe „Betroffener“, dürfen den Zugang
zum Debattenraum reglementieren.
In der Demokratie gehört die Macht entweder
dem Einzelnen, oder der Einzelne
gehört der Macht.
Das Recht auf freie Rede und Informationsgewinnung
sowie auf freie wissenschaftliche
oder künstlerische Betätigung
ist ein Recht und kein Privileg, das von dominierenden
Gesinnungsgemeinschaften
an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen
Personen entzogen werden kann.
Es ist dabei unerheblich, auf welcher politischen
Seite die Gruppierung steht, ob
sie religiös, weltanschaulich oder moralisch
motiviert ist – ein Angriff auf die
Demokratie bleibt ein Angriff auf die Demokratie.
Zuerst verarmt die öffentliche
Debatte, dann kollabiert die vernunftgeleitete
öffentliche Entscheidungsfindung.
Die erste „Spielregel“ für einen offenen
Diskurs muss deshalb lauten: Das Spiel
findet statt! Doch das Problem ist größer.
Wir brauchen eine generelle Ent-Politisierung
und Ent-Ideologisierung der öffentlichen
Debatte. Sonst öffnen wir der Willkür
des Zeitgeistes Tür und Tor. Politische
Sprache ist ein Machtinstrument. Sie ist,
wie schon George Orwell wusste, dazu geschaffen,
„Lügen wahrhaftig und Mord respektabel
klingen zu lassen und dem bloßen
Wind einen Anschein von Festigkeit
zu verleihen.“ Besinnen wir uns stattdessen
auf die Standards und die bewährten
methodischen Werkzeuge des demokratischen
Prozesses. Fördern wir, was der
Wahrheitssuche und dem Erkenntnisinteresse
dient und das Wissen aller vermehrt.
Gerade in unübersichtlichen Zeiten
braucht es nicht weniger, sondern mehr
unkonventionelles Denken. Noch nie in
der Geschichte der Menschheit haben
Zensur und Zurückhaltung von Informationen
den Fortschritt befördert. Meinungsfreiheit
gilt im Rahmen der grundgesetzlichen
Ordnungen prinzipiell für alle
Meinungen, und besonders für solche,
die als anstößig, provokant oder verstörend
eingestuft werden. Sonst bräuchte
es die Meinungsfreiheit nicht.
Kein Thema von öffentlichem Interesse
darf prinzipiell aus dem Debattenraum
ausgeschlossen sein. Demokratie wird
unter Schmerzen der Beteiligten geboren.
Sie stirbt durch Monotonie und Konformismus
oder wenn der Mut, eine unkonventionelle
Ansicht zu vertreten, eine
Art Berufsverbot zur Folge haben kann
– und die Öffentlichkeit dazu schweigt.
„Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger
Vergnügen bringt als seine Abwesenheit
Schmerzen.“ (Jean Paul)
Seien wir generell skeptisch gegenüber
Reinheitsfanatikern, die uns vor gefährlichen
Ideen und Meinungen bewahren
wollen. Stärken wir das Vertrauen in das
intellektuelle Immunsystem unserer Gesellschaft
– wir schwächen es, wenn wir
es abschotten und quasi vor „Erregern“
unkonventioneller Ideen bewahren wollen.
Werden wir immun gegenüber Herdenmentalität
und Konformismus: Beide
führen letztlich in die Unfreiheit, gleich
unter welchem Etikett.
Entziehen wir dem öffentlichen Debattenraum
die Angst und bringen wir den Mut
zurück! Entgiften wir das Meinungsklima
und schaffen wir ein
Klima der anregenden,
redlich geführten
Auseinandersetzung,
sowie von
kultureller Vielfalt,
intellektueller Neugier,
Gedankenfrische
und Spaß am
geistigen Schaffen.
Wir fordern sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren
oder Plattformbetreiber auf,
dem Druck auf sie standzuhalten und
nicht die Lautstarken darüber entscheiden
zu lassen, ob eine Veranstaltung
stattfindet oder nicht.
Wir solidarisieren uns mit den Ausgeladenen,
Zensierten, Stummgeschalteten
oder unsichtbar gewordenen. Nicht, weil
wir ihre Meinung teilen. Vielleicht lehnen
wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir
sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung
bilden zu können. Wir senden ein Signal
des Mutes an alle Personen des öffentlichen
Lebens, sich mit betroffenen
Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren.
Erhöhen wir gemeinsam den Preis für
Feigheit und senken wir den Preis für Mut.
Wir beenden hiermit das unselige Phänomen
der Kontaktschuld. Ohne sie wäre die
Absageunkultur nicht möglich. Kontakt ist
nicht geistige Komplizenschaft. Die Nutzung
einer gemeinsamen Plattform oder
Bühne ändert nichts daran, dass jeder für
sich spricht und auch nur dafür verantwortlich
ist, was er oder sie sagt.
Auch die Unterzeichner dieses Appells
sprechen jeweils nur für sich selbst. Uns
eint vielleicht nichts, außer die Sehnsucht
nach einer aufregenden, für beide Seiten
erhellenden Konversation und nach einem
vielfältigen Kulturangebot, was auch immer
jede und jeder darunter verstehen mag.
APPELL FÜR FREIE DEBATTENRÄUME:
WWW.IDW-EUROPE.ORG
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