Asyl sitzende Assange wurde seit 2015 rund
um die Uhr durch die Firma UC Global überwacht6,
sogar seine Vergiftung wurde erwogen.
Stoff aus einem Spionagethriller. Sowas
kann man sich fast gar nicht ausdenken.
UND JETZT AUCH NOCH
EIN SCHAUPROZESS
Der zynische Höhepunkt des Spektakels ist
nun der juristische und öffentliche Umgang
mit Assange. Dass dieser Prozess überhaupt
stattfindet, ist eine Farce. Erst das
Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London
und die Höchststrafe von fast 50 Wochen
für die Verletzung von Kautionsauflagen.
Dazu Einzelhaft, psychologische Folter,
wie Experten, Ärzte und der Sonderberichterstatter
für Folter, Nils Melzer, letztes Jahr
aufdeckten. Es gibt keinen Zweifel: Julian
Assange ist ein politischer Gefangener. Er
wird gedemütigt, muss sich täglich entkleiden,
wird geröngt. Was glaubt man zu finden:
einen Mikrofilm mit noch ein paar diplomatischen
Depeschen im Enddarm?
Assange wurde in ein Hochsicherheitsgefängnis
gesteckt, Einzelhaft wurde verordnet.
Für ein Auslieferungsverfahren ist das
nicht normal. Man türmt Verfahrensfehler
auf Verfahrensfehler7 (Überwachung, eine
befangene Richterin, Verletzung des Rechts
auf „Waffengleichheit“ im Prozess, kein Zugang
zu Anwälten und Dokumenten). Allein
die Tatsache, dass Gespräche Assanges
mit Ärzten, Anwälten, Vertrauten in der
Botschaft ausspioniert wurden, dürfte genügen,
um den Prozess zum Platzen zu bringen.
8 Wem nützt dieses unwürdige Spektakel?
Warum gibt sich der britische Staat
diese unglaubliche Blöße? Ärzte, Anwälte,
Künstler, Journalisten, Politiker protestieren,
signieren Petition um Petition. Der
Druck auf die britische Regierung wächst.
Im Prozess sitzt Assange in einem Glaskasten,
wie ein Terrorist. Die Kommunikation
mit seinen Anwälten: stark eingeschränkt.
Schon in den letzten Monaten hatte er
kaum Möglichkeit, sich mit seinen Anwälten
zu besprechen. Seine Verlobte Stella Moris
und viele andere kämpfen um sein Überleben.
Das Verfahren, das ihn in den USA erwartet,
würde vor einem unrühmlichen Spionagegericht
des Eastern District of Virginia
geführt, dessen Jurys überwiegend mit
regierungsnahen Mitgliedern besetzt ist.
Einen Freispruch gab es dort noch nie. Er
würde eine lebenslange Haft aufgrund der
zu erwarteten scharfen Haftbedingungen
und seines angeschlagenen Gesundheitszustands
vermutlich nicht überleben.
FIEBERTHERMOMETER
DER PRESSEFREIHEIT
Julian Assange, er ist jetzt schon zu einem
Symbol der Pressefreiheit geworden. Erneut
verdichten sich die Zeitläufte in seiner
Person. An seinem Beispiel wird gerade der
aktuelle westliche Stand der Pressefreiheit
verhandelt. Er ist jetzt das Fieberthermometer
der freien Welt. Ganz konkret: daran,
wie man Assange jetzt behandelt, kann man
ablesen, wieviel an Informationen man als
Bürger morgen noch bekommt. Heikle Informationen,
geheime Informationen, aber Informationen,
die man braucht, um als Bürger
Entscheidungen zu treffen.
In der Demokratie ist dieser unverstellte Zugang
zentral. Der Bürger ist der Souverän.
Wenn Regierende oder Staatsbedienstete
Verbrechen begehen und sich unter den
Schutz des Staatsgeheimnisses flüchten,
ist das Band zwischen Regierten und Regierenden
durchschnitten. In einer Demokratie
kann es keinen legitimen Geheimnisschutz
für Verbrechen Einzelner geben. Eine Regierung,
die das vor der Öffentlichkeit vertritt,
putscht von oben nach unten. Ein Justizsystem,
welches das mitmacht, wird zum
Komplizen. Und eine Öffentlichkeit, die dazu
schweigt, hat Demokratie nicht verstanden
und letztlich auch nicht verdient.
Assange wird nicht primär dafür bestraft,
was er getan hat. Man versucht ihn davon
abzuhalten, je wieder etwas zu veröffentlichen.
Für Menschen, die die Wahrheit
fürchten, ist Assange eine tickende
Zeitbombe. In einer Welt volle Lügen ist
jemand, der eine Wahrheitsmaschine betreibt
gefährlich – und einer der mächtigsten
Menschen der Welt. „Bestrafe einen, erziehe
hundert“, hiess es bei Mao Tse-Tung.
Das ist das pädagogische Spektakel und Signal
an alle Journalisten in der Welt. Ihr seid
als nächste dran.
Als in den USA im Jahre 1690 die erste Zeitung
auf den Markt kam, wurde sie tags
drauf verboten. Die Gründung von Wikileaks
2006 war die Geburtsstunde einer neuen
Form des Journalismus. So wie der Wissenschaftler
einen Beweis mitliefern muss,
wenn er ernst genommen werden will, sollte
es auch der Journalist tun müssen. Solange
das nicht geschieht, besteht ein direktes
Machtungleichgewicht. Leser sind
nicht in der Lage, zu verifizieren, was man
ihnen erzählt. Damit ist dem Machtmissbrauch
jede Tür geöffnet. Im 21. Jahrhundert,
nach Renaissance, Humanismus und
Aufklärung und in Zeiten des Internets ist
der Bürger des Westens immer noch nur ein
Glaubender, der sich viel zu oft auf kolportierte
Trugbilder stützt.
Das ist die schmerzvolle Botschaft von Julian
Assange: wir haben keinen blassen
Schimmer von der Realität in ihrem ganzen
Ausmaß. Das Urteil wird am 4. Januar 2021
verkündet, der Prozess könnte dann vor
höheren Instanzen weitergeführt werden.
Auch dank dieses Prozesses öffnet sich der
Schleier um die Realität täglich mehr vor
unseren Augen.
Quellennachweis:
(1) https://cryptome.org/0002/ja-conspiracies.pdf
(2) https://www.newyorker.com/magazine/2010/06/07/
no-secrets
(3) https://wikileaks.org/wiki/U.S._Intelligence_planned_to_
destroy_WikiLeaks,_18_Mar_2008
(4) https://www.tareqhaddad.com/wp-content/
uploads/2020/09/2020.09.18-Assange-Extradition-Hearings
Statement-of-Dean-Yates.pdf
(5) https://wikileaks.org/gifiles/docs/10/1056763_re-discussion
assange-arrested-.html
(6) https://www.youtube.com/watch?v=siigAameuGg
(7) https://www.lawyersforassange.org/en/open-letter.html
(8) https://www.theguardian.com/media/2019/dec/17/julian
assanges-extradition-fight-could-turn-on-reports-he-wasspied
on-for-cia
Der Text erschien zuerst auf der Website:
„Freischwebende Intelligenz“:
https://miloszmatuschek.substack.com/p/der-fall-assange-unser-schweigen
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