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schwer Erkrankte und Tote kenne ich
eigentlich persönlich?“ – wäre doch
der probateste Weg, sich die Angst zu
nehmen und sich zu beruhigen, den
kritischen Stimmen zu lauschen und –
sofern man deren Argumente überzeugend
findet – wieder ohne Angst vor
dem „Killervirus“ durchs Leben zu gehen.
Genau das passiert aber nicht.
Ich glaube auch nicht, dass die massive
Virus-Angstmache der Medien
die Ursache des umfassenden Mitläufertums
ist, auch wenn die Einheitsfront
Propaganda in Sachen Corona ja
wirklich beispiellos ist. Trotzdem weiß
jeder – und wirklich jeder –, dass massive
Kritik an der offiziellen Einschätzung
der Gefährlichkeit des Virus und
damit der Angemessenheit der Maßnahmen
existiert. Auch weiß jeder, wo
er die finden kann; schließlich werden
diese Quellen von den Mainstream-
Medien ja pausenlos an den Pranger
gestellt. Das alles wird von der
Mehrheit aber ganz bewusst nicht zur
Kenntnis genommen. Die Mainstream-
Gläubigen sind daher auch nicht arme
Verführte; sie haben eine bewusste
Entscheidung getroffen, für die offizielle
Propaganda-Linie, gegen die kritischen
Stimmen. Warum?
Das ist das erklärungsbedürftige Phänomen:
Warum sind Argumente, Zahlen,
nüchterne Tatsachen für die Mehrheit
völlig irrelevant für ihre Haltung in
Sachen Corona? Wieso spielt Bildung
offensichtlich keine Rolle bei den Regierungstreuen?
Warum sind Diskussionen
an sich schon indiskutabel? Warum
setzt bei der Mehrheit der Verstand
aus?
2. MEINE ANTWORT
Die Wenigsten haben wirklich Angst
vor dem Virus. Aber alle haben große
Angst vor der plötzlich entfesselten
Macht des Staats.
Die Mainstream-Medien haben in Sachen
Corona eine Atmosphäre von
Wahrheit und Lüge, von Schwarz und
Weiß, von Freund und Feind hergestellt
und verfolgen die Aushebung
dieses Grabens mit enormer Gründlichkeit
und Beharrlichkeit: Wer alles
mitmacht, Maske trägt, Abstand hält,
alle Begründungen glaubt, alle Einschränkungen
akzeptiert, gehört zur
Gemeinschaft der Vernünftigen, der
Rücksichtsvollen, der Sauberen, der
geistig und seelisch Gesunden. Wer
nicht so ohne Weiteres gehorcht, gefährdet
mit seinem Ungehorsam die
Gemeinschaft, ist daher unsolidarisch,
unhygienisch, geistesgestört („Verschwörungstheoretiker“,
„Aluhut“),
überdurchschnittlich dumm („Covidiot“,
„Impfgegner“), Verfassungsfeind
(„Reichsbürger“, „Rechtsextremist“,
„Antisemit, „Nazi“) – kurz: ein
zutiefst unmoralisches Wesen. Es ist
wie im Krieg: Wer nicht für uns ist, ist
gegen uns.
Der zunächst fiktive Graben enthält
offensichtlich eine massive Drohung;
das zeigen uns schon mal die Werkzeuge.
Ob einer dem offiziellen Narrativ
wirklich glaubt oder nicht, ist
ganz gleichgültig, aber die Drohung
ist real, die ist keine Glaubensfrage.
Sie besteht vor allem darin, von den
Mächtigen verhöhnt und aus der Gemeinschaft
ausgestoßen zu werden,
wenn man nicht zustimmt und gehorcht.
Allein das, vermute ich, ist das
Schlimmste, was sozialen Tieren wie
uns Menschen passieren kann. Wie
man weiß, bedeutet allein schon ein
solches „seelisches“ Ausgestoßenwerden
nicht selten den Tod für das Individuum.
Unterstützt wird die Androhung
der sozialen Vernichtung durch die der
materiellen – siehe den Fußballer, der
wegen Teilnahme an einer Grundrechte
Demo fristlos entlassen wurde.
Um die Angst zu kaschieren, für die
man sich schämt, versucht der Eingeschüchterte
mit allen Mitteln, sich
vom offiziellen Narrativ zu überzeugen.
Das gelingt ihm, indem er Widersprüche
und Widersprechende einfach
nicht zur Kenntnis nimmt und vorsorglich
in die Beschimpfungen einstimmt.
Meine vorläufige Antwort auf die Ausgangsfrage
lautet also: Niemand hat
den Verstand verloren; es gibt aber
historische Situationen, in denen die
Eliten so bedrohlich werden, dass der
Verstand dem Überlebensinstinkt bedingungslos
untergeordnet wird. Die
plötzliche Ermächtigung durch das
Außerkraftsetzen elementarer Rechte
zum Schutz des Einzelnen vor dem
Staat bringt die Mehrheit dazu, eng an
die Seite eben dieses Staats zu rücken
und aus wohlverstandenem Eigeninteresse
auf viele Freiheiten – nicht zuletzt
die, den eigenen Verstand zu betätigen
– zu verzichten.
Diese Menschen verhalten sich so, wie
das ein bedrohtes Kind auch tun würde:
In Gefahr sucht es sofort die Nähe
und damit den Schutz des Erwachsenen.
Dass derselbe Erwachsene auch
der Bedrohende sein kann, wissen wir
aus Erfahrung: Eltern beschützen, bedrohen
und bestrafen ihre Kinder bekanntlich
in Personalunion.
Kurzum: Nicht die Angst vor Krankheit
und Tod, auch nicht in erster Linie
Dummheit und Gutgläubigkeit erklären
das plötzliche Mitläufertum der
großen Mehrheit; es ist die Angst vor
der entfesselten Macht der Eliten.
Julia Weiss ist so alt wie die
Bundesrepublik, gelernte
Berlinerin, studierte Ökonomin,
gewesene Texterin und
ehemalige Attac-Aktive. Sie hat
eine Tochter, einen Sohn, einen
Enkel und einen Garten.
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