Das Sterben gehört zum Leben und ist doch aus ihm
verdrängt worden, was sich in der Corona-Krise deutlich zeigt.
Exklusivabdruck aus „Lockdown 2020“.
„Was ist der Makel der menschlichen
Rationalität?
Sie tut so, als sähe sie den
Horror und Tod nicht, der am Ende der von
ihr konstruierten Pläne steht“ —
Don DeLillo, „Cosmopolis“
Der Tod und die ökonomische Notwendigkeit.
Will man all jene Argumente, die
seit Monaten zur Verhängung des Lockdowns
auf die Menschen einprasseln, auf
ihre wesentlichen Aussagen reduzieren,
so blieben diese beiden Begrifflichkeiten
als letztgültige Begründungen über. Die
Macht besagt: Wir verhindern, dass ihr
an Corona sterbt. Wobei sie gleichzeitig
sagt: Wir haben nicht die erforderlichen
(letztendlich ökonomischen) Kapazitäten,
um euch gesundheitlich zu versorgen.
Während in unserer westlichen Gesellschaft
wirtschaftliche Sachzwänge beinahe
täglich bei kleinen und großen politischen
Debatten als Argument herhalten,
stellte die Rede vom unmittelbar bevorstehenden
Tod, den das Coronavirus verursachen
von Stefan Kraft
könnte, für die meisten Menschen
ein Schockmoment dar, das seine
Wirkung auch nicht verfehlte.
Die verkündete Pandemie traf in weiten
Teilen der Welt auf eine Gesellschaft, die
in ihrem Alltag, ihrer Verfasstheit, ihren
politischen Grundzügen und in der Ausrichtung
von Arbeit und (gemeinschaftlichem)
Leben den Tod aus dem kollektiven
Bewusstsein verbannt — und das
Sterben ausgelagert hat, in entfernte
Länder oder in die Betten im Krankenhaus.
Für den Umgang mit diesem und
allen noch folgenden Krankheitserregern
ist es daher in der Diskussion notwendig,
den Toten des Virus die übrigen Toten eines
wirtschaftlichen Systems an die Seite
zu stellen, dessen VertreterInnen letztere
als unumgängliche Notwendigkeit
einkalkulieren und kaum einer weiteren
Erwähnung für wert befinden, erstere
hingegen seit Aufkommen der Krankheit
als beständige Drohung verwenden,
um mit ihnen zu disziplinieren und zu regieren.
Um einen aufkommenden Verdacht zu
entkräften: In dieser Argumentation wird
nicht aufgerechnet, sondern ein Gegensatz
zu zeigen versucht, zwischen dem
angeblich kurz bevorstehenden und dem
immer bevorstehenden Sterben. „Der
Tod ist der politischen Ökonomie immanent“(
1), sie will nur zumeist von ihm
nichts wissen und hören. Und wenn
doch, so dient er in der Sprache der Kapitalisten
herrschenden, nicht humanitären
Interessen. Eine Position einzunehmen,
die den Tod sichtbar macht und
näher an unser aller Leben heranführt,
bedeutet, sich sowohl der verkündeten
Bedrohung als auch dem alltäglichen
Sterben in einer katastrophalen Ordnung
zu widersetzen.
Die Angst, durch Covid-19 zu sterben, lähmt viele Menschen in Deutschland,
in Europa und weltweit. Sie lassen sich in ihrer Mehrheit Maßnahmen der Regierungen
gefallen, die weit schädlicher sein dürften als der Krankheitserreger
SARS-CoV-2. Ihre Freiheit scheint ihnen weniger wert als der Schutz vor einer vermeintlich
lebensbedrohenden Gefahr. Das ist nur schwer rational nachzuvollziehen
und zu verstehen. Die Angst, zu den sogenannten Corona-Toten zu gehören, wirkt so
stark, dass sich ganze Bevölkerungen freiwillig jenen unterwerfen, denen sie bisher
misstrauten. Der Versuch, diesen gesellschaftlichen Vorgang zu verstehen, muss die
Frage einbeziehen, welchen Platz der Tod in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts
hat. Stanislaw Lem stellte vor 40 Jahren fest, dass die moderne Zivilisation der letzten
zwei Jahrhunderte den Tod zu einem Fremdkörper gemacht hat. Mit den aktuellen Folgen
dieser Entwicklung hat sich der Wiener Publizist Stefan Kraft in seinem Beitrag in
dem aktuellen Buch „Lockdown 2020 — Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft
zu verändern“ auseinandergesetzt.
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„Es gibt viele Arten zu
töten. Man kann einem
ein Messer in den Bauch
stechen, einem das Brot
entziehen, einen von
einer Krankheit nicht
heilen, einen in eine
schlechte Wohnung
stecken, einen durch
Arbeit zu Tode schinden,
einen zum Suizid
treiben, einen in den
Krieg führen usw. Nur
weniges davon ist in
unserem Staat verboten“
Bertolt Brecht, „Me-ti.
Buch der Wendungen“.