Jim Knopf –
nicht mehr lesenswert?
„Jim Knopf wird leider noch oft gelesen“, so
der Titel eines Interviews mit der Kita-Leiterin
Christiane Kassama in ZEIT-ONLINE vom
23. Juli. In dem Interview bemängelt Kassama,
dass der Roman viele Klischees zum
angeblich typischen Wesen und Äußeren
von Schwarzen enthalte. Nahezu alle Presseartikel
reproduzieren in ihren Jubiläumstexten
im August die Rassismus-Vorwürfe.
Im Ergebnis sind es Glückwünsche mit Einschränkung:
Der Vorbehalt übersteigt die
Freude. Der Makel des Rassismus klebt am
Buch. Und die Gefahr ist nicht gering, dass
zukünftige Elterngenerationen lieber die
Hände von Jim Knopf lassen werden.
Fix und fertige Kritik
oder Plädoyer für einen
lebendigen Leser
Die Verfasser der Jubiläumsartikel arbeiten
vornehmlich mit zusammengeklaubten Versatzstücken.
Eigene Gedanken zum Buch
machen sich die Autoren jedenfalls kaum.
Mut, Muße, Maß und Mühe fehlen. Das
Buch ist „fertig“ gelesen, „fertig gemacht“,
beurteilt und so tot wie die Diskussion darum.
Dabei bietet „Jim Knopf“ alles, was Literatur
haben muss, um eine lebendige,
mitunter lebenslange Beziehung zu ihr aufbauen
zu können. Doch dazu bedarf es lebendiger,
beziehungsfähiger Leser.
Die kritische Lesart:
Ideologiekritik als Ideologie
Als Schriftsteller hatte Michael Ende kein
Glück. Seine Romane sind zu einer Zeit erschienen,
als Fragen, was die Literatur eigentlich
ausmacht, ins Hintertreffen geraten.
Die heute alles bestimmende Frage
lautet: „Wie kann der Leser vor der offenen
oder unterschwelligen Ideologie des Autors
oder seines Textes geschützt werden?“ Die
Antwort der Nachkriegszeit auf die traumatischen
Propagandaerfolge der Nazis bei einem
Millionenpublikum war Kritik1 und der
daraus resultierende pädagogische Auftrag,
Generationen von kritischen Lesern heranzuziehen.
Eine mehr als legitime Antwort!
Doch (Ideologie-)Kritik wird selbst zur Ideologie,
wenn sie keine anderen Lesarten neben
sich duldet. Sie bevormundet dann den
Leser. Ihm wird die Chance genommen und
das Vertrauen entzogen, sich ein eigenes
Bild zu machen. Die Kritik setzt so vor dem
Verstehen an.
Der Verlust eines
literarischen Maßes
Im Falle von „Jim Knopf“ ist der Verlust eines
literarischen Maßes besonders bedauerlich.
Michael Ende ist die Anerkennung
als „echter“ Schriftsteller bis heute versagt
geblieben. Der wohl poetischste deutschsprachige
Roman der Nachkriegszeit wartet
immer noch darauf, literarisch entdeckt
zu werden. Diese Entdeckungsreise anzutreten,
lohnt sich. Poetische Lektüren eröffnen
eine Welt. Zudem sind sie im Stande,
die oft vorschnellen kritischen Urteile
(wie den Rassismus-Vorwurf) zu entkräften.
Wer spricht?
Besonderen Anstoß nehmen Kritiker von
Endes Roman am Wort „Neger“. Dabei wird
so getan, als ob das Wort Michael Ende gehöre.
Selbst seine Verteidiger nehmen das
implizit oft an, indem sie historisch argumentieren
und zu bedenken geben, dass
das Wort in der Zeit, als Michael Ende den
Roman schrieb, noch nicht so bedenklich
gewesen sei, beziehungsweise, dass das
Bewusstsein für seine Bedenklichkeit gefehlt
habe. Eine solche Argumentation
kann in bestimmten Fällen berechtigt sein,
ignoriert jedoch das eigentliche Versäumnis:
Literatur sollte zuallererst wie Literatur
gelesen werden und nicht wie eine Propagandaschrift.
In ihr kommen im Gegensatz
zur Propaganda immer mehrere Stimmen
gleichberechtigt zu Wort. Michael Ende hat
einen Erzähltext geschrieben. Wie jeder Erzähltext
hat er einen Erzähler. Der Erzähler
ist nicht der Autor. Der Erzähler in „Jim
Knopf“ ist nicht Michael Ende. Michael Ende
hat den Erzähler geschaffen. Für das Erzählen
verantwortlich ist innerhalb der fiktiven
Welt der Erzähler. Er liefert den Standpunkt,
von dem aus das Geschehen innerhalb der
fiktiven Welt betrachtet wird. Durch seine
Brille schauen wir auf die Figuren, von denen
er berichtet. Der Erzähler urteilt über
die Figuren und die fiktive Welt. Die Figuren
haben aber dennoch ihren eigenen Standpunkt.
Die vermeintlich klischeehaften Urteile
gehen also auf das Konto des Erzählers
oder der Figuren und sie haben in Michael
Endes Roman eine wichtige Funktion.
Herr Ärmel spricht
Das Wort „Neger“ kommt im Roman genau
einmal vor! Und es gehört nicht Michael Ende,
sondern Herrn Ärmel! „Das dürfte vermutlich
ein kleiner Neger sein", bemerkte
Herr Ärmel und machte ein sehr gescheites
Gesicht.“ Herr Ärmel ist der Untertan auf
Lummerland. Auch jungen Lesern wird seine
steife Untertanenmentalität nicht entgehen.
Der Erzähler und alle anderen Figuren,
darunter die Helden und Sympathieträger
Lukas und Jim, nehmen das Wort kein einziges
Mal in den Mund! Romane fällen keine
Urteile. Sie sind auch keine Anklageschriften.
In ihnen wird eine Welt vorgestellt, in
denen die Stimmen und Handlungen der
Erzähler sowie der Figuren gleichberechtigt
nebeneinanderstehen. Der Leser kann sich
in die vorgestellte Welt, die Figuren und ihre
Handlungen hineinversetzen und er kann
über sie urteilen. Er kann also zugleich die
Perspektive des Lebens und die des Urteilens
einnehmen. Die beiden Perspektiven,
die jeder Erzähltext enthält, halten sich gegenseitig
in Schach und ermöglichen ein
wesentlich tieferes, lebendigeres, der Ambivalenz
der Lebenswirklichkeit gerechter
werdendes Verstehen, als dies direkte, objektive
Urteile (Kritik) vermochten.
Klischees vs. Knopf-Prinzip
Die Kritiker von „Jim Knopf“ haben natürlich
recht. Es gibt im Roman so einige klischeehafte
Darstellungen. Sie sind sogar ausgesprochen
auffällig und heben sich vom Rest
des Textes ab. Etwa wenn der Erzähler über
die Mandalanier (in frühen Ausgaben Chinesen)
urteilt: „…die Mandalanier sind ein
sehr sauberes Volk. Sie ziehen niemals etwas
Schmutziges an und selbst der kleinste
Mandalanier, der nur so groß ist, wie eine
Erbse wäscht seine Wäsche jeden Tag…“.
Sind diese Klischees, die hier kolportiert
werden, die von Michael Ende, entsprechen
sie gar seinem Chinabild? Natürlich nicht.
Michael Ende legt diese Klischees dem Er-
Illustration: F.J. Tripp © Thienemann Verlag
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