Ich bin seit über 20 Jahren Krankenschwester. Nach den Repressalien und Denunziationen nach meiner Demo-Teilnahme
in Berlin traue ich mich nicht mehr, meinen Namen öffentlich zu nennen. So mutig bin ich leider nicht. Ich habe
Kinder und bin auf meinen Job angewiesen. Ich habe beruflich ausschließlich mit der sogenannten „Risikogruppe“ zu
tun. Die 3 Patienten, welche ich hier kurz vorstellen möchte, stehen exemplarisch für die vielen anderen Patienten, die
mir Woche für Woche begegnen.
Frau A., 85 Jahre,
krebskrank, alleinstehend.
Die meisten Verwandten leben weiter
weg. Ihren 85. Geburtstag im April hatte
sie lange geplant und sich sehr darauf gefreut,
Restaurant gebucht, Freunde und
Verwandte eingeladen – fällt aus – Lockdown
– weder Enkel noch Urenkel kommen
zum Gratulieren, die Oma soll nicht
angesteckt werden. Sie verbringt ihren
85. Geburtstag mit ihrer Tochter. Die Umarmung
fällt aus, man weiß ja nicht so genau…
vorsichtshalber. Kuchen gibt es keinen,
im April ist Mehl nicht zu kriegen. Es
gibt Kekse. Frau A. hat vor Corona jede
Woche zweimal Sport gemacht und sich
einmal pro Woche zum Kaffeeklatsch in
der Kirche getroffen. Seit März ist alles
abgesagt. Frau A. verlässt die Wohnung
selten, die Tochter kauft ein – zur Sicherheit.
Außerdem bekommt Frau A. unter
der Maske sehr schlecht Luft und ihr wird
schwindelig. Abnehmen mag sie die Maske
nicht, sie hat Angst vor Corona und
den Kommentaren ihrer Mitmenschen.
Langweilig sei alles und einsam, sagt sie.
Keine Kontakte, kaum Bewegung. Nur
das Telefon.
Frau B. 86, Jahre.
Ende letzten Jahres zog sie aus einer anderen
Stadt ins Heim in die Nähe der Kinder.
Ihr Haus musste sie im April verkaufen.
Frau B. fällt das schwer, sie ist traurig.
Dazu kommt ein Bandscheibenvorfall,
sie muss ins Krankenhaus und wird operiert.
Besuche sind nicht erwünscht und
nach dem Krankenhaus sind erst einmal
14 Tage Quarantäne im Heim auszuhalten
– sicherheitshalber. Die Tochter darf
nicht kommen. Gegessen wird auf dem
Zimmer – alleine – der Speisesaal ist zu –
zur Vorsicht. Dann darf die Tochter kommen.
Mit Maske und Abstand und einer
Plexiglasscheibe dazwischen. Frau B. hat
immer noch Schmerzen und ist betrübt
über den Verkauf des Hauses. An das
Zimmer im Heim hat sie sich noch nicht
gewöhnt. Alle Veranstaltungen und gemeinschaftlichen
Aktivitäten im Heim fallen
aus. Frau B. weint, die Tochter sagt,
sie würde die Mutter so gerne mal in den
Arm nehmen – es findet nicht satt – Vorschriften
– sicher ist sicher. Frau B. weint
erneut, als sie mir die Geschichte erzählt.
Ich muss schlucken und bekomme plötzlich
durch die Maske noch schlechter
Luft als sonst und weiß nicht recht, was
ich sagen soll.
Herr C. , 84 Jahre,
krebskrank, alleinstehend.
Als er schwer erkrankte, versorgt ihn seine
Lebensgefährtin. Dann stirbt sie Ende
letzten Jahres überraschend. Anfang
2020 muss Herr C. ins Heim, es geht
nicht mehr alleine. Herr C. liegt alleine in
seinem Zimmer, der Fernseher ist aus. Er
kann oder mag kein Fernsehen mehr sehen.
Die Vorhänge sind zugezogen. Rausgehen
ist schwierig, alleine kaum möglich
und Außenkontakte sind nicht erwünscht.
„Sie lassen uns ja kaum raus.“
Er starrt die Wand an, hat Schmerzen, die
Kinder dürfen kaum kommen. Nur einer
für eine Stunde, die Enkel und Urenkel
kommen gar nicht, winken nur einmal zu
Ostern durch das Fenster, anfassen nicht
erlaubt – zu Beginn der Pandemie mit Begleitung
des Pflegepersonals – Bekannte
kommen gar nicht – aus Angst – Ansteckungen
– Vorsichtsmaßnahme. Herr
C. ist verzweifelt, hat „keine Lust mehr“.
Starrt die Wand an, weint fast. Ich gebe
ihm noch nicht einmal die Hand – keine
Handschuhe an – darf ich nicht – Händegeben
nicht erwünscht und Coronagruß
mit dem Ellenbogen passt nicht. Ich fühle
einen Kloß im Hals und höre mich etwas
von „komischen Zeiten“ reden.
Komische Zeiten, mir fallen Fragen ein:
Möchte ich so alt werden? Würden mir
Telefonate mit den Angehörigen reichen?
Am Lebensende wenn es mir schlecht
geht? Möchte ich alleine in meinem Zimmer
alt werden? Wenn meine Familie
und meine Freunde nicht mehr in den
Arm genommen werden dürfen, ohne
Berührung, wenn ich leide. Was ist das
Leben wert, wenn am Ende die Menschlichkeit
draufgeht? Im Krieg, in den größten
Schlachten werden die verwundeten
und verletzten Soldaten hinter die Frontlinie
gezogen, damit keiner alleine sterben
muss. Ist es richtig und unausweichlich,
die Schwerstkranken alleine zu lassen?
Ist Gesundheit als Wert absolut? Ist der
Wert Gesundheit höherwertiger als Freiheit,
Selbstbestimmung und Menschlichkeit?
Gibt es noch andere Werte als Gesundheit,
die wichtig wären, und schließt
die Entscheidung für einen Wert die anderen
aus? Ist das Maß überschritten
oder ist alles noch verhältnismäßig? Worum
geht es im Leben? Welche Werte sind
mir wichtig?
Alle wollen die „Risikogruppe“ schützen,
aber wurde die jemals gefragt, ob die geschützt
werden wollen? Und wenn ja, zu
welchem Preis? Und wäre es möglich,
dass jeder die Verantwortung für sich
übernimmt und selbst entscheidet?
Das Grundproblem: Es trifft unsere Kultur
so hart, weil wir mit dem Tod nicht
mehr umgehen können. Sterben gehört
zu Leben und das haben wir verlernt.
Man kann mit dem Tod seinen Frieden
machen, der Tod kommt auch als Freund.
Wir können das Leben nicht unendlich in
die Länge ziehen. Aber es gibt kein Wissen
mehr über das Leben, weil wir das
Ende nicht sehen wollen. Wir ahnen nur
das Ende, nicht aber den Anfang.
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„Der Mensch ist Zeit
und Ewigkeit in einem
Leib“ sagte Jacob Böhme.
Erinnern wir uns an
die Menschlichkeit und
das was Menschsein
ausmacht.