Lichtinstallation für Assange an den Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses HMP Belmarsh
vom Frühjahr 2020 (c) Pixelhelper, Dirk-Martin Heinzelmann
bares, nicht zurückverfolgbares System zur
massenhaften Weitergabe von Geheimdokumenten
und ihrer Analyse. Eine virtuelle
Fabrik der Wahrheit. Jeder Leak zeigte
den Mächtigen: Ich sehe das, was ihr nicht
wusstet, dass ich sehe. Sonst hättet ihr es
vielleicht nicht gewagt. Und ich zeige es allen.
Ihr könnt euch nie mehr sicher sein,
wenn ihr etwas Kriminelles tut, egal ob es
Kriegsverbrechen von Staaten, Steuerhinterziehung
von Banken oder die Methoden
von Scientology sind.
Das ist für Mächtige ein Affront. Eine Beleidigung.
Die ultimative Kampfansage. „Eine
soziale Bewegung zum Aufdecken von
Geheimnissen“, so Assange2, „könne viele
Regierungen stürzen, die sich darauf stützen,
dass sie die Realität verschleiern –
einschliesslich der US-Regierung.“ Die USA
sehen Julian Assange und Wikileaks schon
seit 2008 als eine Art Public Enemy No. 1,
den Bin Laden des Informationszeitalters.
Wie verhindert man also den Verrat Mächtiger
an der Demokratie? Leaks sind ein brutales,
aber letztlich einzig mögliches, und
daher notwendiges Mittel. Die Ultima Ratio.
Die Snowden-Enthüllungen sind ein gutes
Beispiel: Snowden hatte keine andere
Möglichkeit, als das Datenmaterial über die
Massenüberwachung von NSA & Co. zu entwenden.
Er musste die Beweisstücke veröffentlichen
und Geheimnisverrat begehen,
um die illegale Massenüberwachung von
Bürgern in aller Welt durch ihre Regierungen
offenzulegen. Hätte er darüber nur einem
Journalisten berichtet, hätte dieser Bericht
von den Geheimdiensten mit Verweis
auf Geheimnisverrat unterbunden werden
können, und das Ganze wäre erneut mit
Verweis auf Geheimhaltung in einem ebenso
geheimen Gerichtsverfahren versteckt
worden. Geheim, geheim, weg. Niemand
hatʼs gesehen. Es ist, wie es ist: Je heikler
die Information, desto brutaler muss sie
ans Tageslicht befördert werden, sonst wird
sie nicht lange überleben.
VOM STAR ZUM
DISSIDENTEN DES WESTENS
Assange veröffentlichte ab 2006 zuerst Dokumente
über Wahlfälschung in Kenia, über
die Praktiken von Scientology und die Steuerhinterziehungstaktiken
von Banken. Er
wurde gefeiert und mit Preisen überhäuft.
Wikileaks landete seit seiner Gründung im
Jahr 2006 mehr journalistische Coups als
die New York Times und Washington Post
in 30 Jahren. Das Blatt wendete sich ab
dem Jahr 2010, als Assange begann, sich
verstärkt durch Veröffentlichungen mit den
USA anzulegen. Collateral Murder, das bekannte
Video von dem Hubschrauberangriff
auf Zivilisten im Irakkrieg, bei dem auch
zwei Reuters-Journalisten ums Leben kamen,
ging um die Welt. (https://youtu.be/
is9sxRfU-ik)
Die US-Militärs legten dem Reuters-Verantwortlichen
im Irak, Dean Yates, damals Fotos
vor4, auf denen Kalschnikoffs und Raketenwerfer
zu sehen waren, um zu zeigen,
dass die Getöteten bewaffnet waren. Lügen
in Zeiten des Krieges, wie wir heute wissen.
Julian Assange war tatsächlich der einzige
Mensch der Welt, der die Wahrheit ans
Licht brachte. Dann das Afghan War Diary
und die Iraq War Logs, unzensierte Frontberichte,
die Gitmo-Files über Folter in Guantanamó,
schließlich die Veröffentlichung
diplomatischer Depeschen der letzten Jahrzehnte
(Cablegate).
Was seitdem passieren sollte, konnte man
grob schon 2012 nachlesen, wieder auf Wikileaks,
und zwar in privaten Mails der als
Schatten-CIA bekannten Firma „Stratfor“5.
„Lasst ihn uns die nächsten 25 Jahre von einem
Land ins nächste verlegen und ihn mit
Klagen überziehen. Zieht alles ein, was er
und seine Familie besitzt, um jede Person in
Verbindung mit Wikileaks einzubeziehen.“
Assange hatte allen Grund, misstrauisch zu
sein, auch auf jegliches Vertrauen selbst
gegenüber seinen besten Freunden zu verzichten.
Er las seine Zukunft schlicht aus
den Unmengen von geheimen Daten, die
ihm sein System Wikileaks anspülte. Misstrauen
war seine Lebensversicherung. Dabei
hätte das Verfolgen der Nachrichten
auch schon genügt. Journalisten und Politiker
fabulierten öffentlich darüber, warum
man „den Hurensohn nicht einfach abknalle“.
(https://youtu.be/gI0N_L0llo8)
Seine Computer wurden konfisziert, Wikileaks
mit FBI-Leuten infiltriert, Misstrauen
gesät. Der seit 2012 in der ecuadorianischen
Botschaft in London im politischen
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