DIE ANERKENNUNG
Wenn wir die Corona-Krise überwinden wollen, müssen wir uns unseren
Ängsten stellen, sie anerkennen – und anderen mitteilen.
Dieses Essay zu schreiben, das fällt mir
gleichzeitig leicht und schwer. Leicht ist
es, mich aus dem Fundus an Sorgen zu
bedienen, die sich in den letzten Monaten
angehäuft haben, das Sammelsurium
an kleinen Traumatisierungen auszubreiten,
die ich und die wir alle erlebt
haben. Schwer ist es, sich diese Sorgen
einzugestehen. Denn bevor wir merken,
was uns bedrückt, müssen wir uns bewusst
werden, dass Druck da ist. Aber
dagegen sperren sich derzeit ganz viele
Menschen. Wir reden unsere Sorgen
klein, winken ab, verleugnen sie vielleicht
sogar. Anderen geht es schlechter. Wir
können uns da noch glücklich schätzen.
Du hast doch viel kleinere Sorgen. Deine
Sorgen sind nicht echt. Deine Gefühle
sind nicht echt. Du darfst Dich so nicht
fühlen. Du bist unmoralisch. Du bist egoistisch.
Wer bist du schon? Wer bist Du,
um Sorgen zu haben?
Das ist eben der falsche Weg. Die Anerkennung,
das ist ein doppeldeutiger Titel.
Wir müssen zunächst unsere eigenen
Sorgen als wichtig anerkennen, um diese
Anerkennung dann anderen zuteilwerden
zu lassen. Denn unsere Sorgen wiegen.
Sie haben Gewicht, und oft wiegen
sie schwer. Dass andere auch Sorgen haben,
vielleicht noch mehr als wir – das
ist eine Gelegenheit, sich auszutauschen,
nicht, sich abzuschotten. Es ist eine Gelegenheit,
uns selbst ernst zu nehmen.
Erst wenn wir das getan haben, nehmen
wir auch anderer Menschen Ängste wahr.
Dann können wir uns ihnen öffnen, sie
nachvollziehen. Und uns ihnen stellen.
Das habe ich in den letzten Wochen und
Monaten nicht getan. Diese Zeit war
auch alles andere als normal. Wir alle leben
seit Anfang des Jahres im permanenten
Krisenzustand. Glaubst Du, das geht
spurlos an Dir vorbei?
Genau in dieser Zeit bin ich umgezogen.
Raus aus dem Elternhaus wollte ich. Lange
habe ich mir diesen Wunsch versagt,
da ich meinen Eltern, die mich schon immer
unterstützt haben, keine zusätzliche
finanzielle Bürde aufhalsen wollte. Ich
fand es unverhältnismäßig, sie zu bitten,
gleich mehrere hundert Euro im Monat
für mich auszugeben – nur für ein Mehr
an persönlichem Freiraum? Ich Egoist!
Meine Eltern sahen das beide anders.
Nach einigen Gesprächen war uns allen
klar, dass es jetzt an der Zeit ist für
diesen Schritt. Lange hatte ich einen
Wunsch unterdrückt, von dem ich erst
merkte, wie tief er sitzt, als ich mich auf
ihn eingelassen hatte. Um meinen Eltern
keine Last zu sein, erstickte ich zuvor jede
von Aaron Richter
Überlegung im Keim, wie es wohl wäre,
einen selbstgeltenden Raum zu haben.
Dabei ist Raum so wichtig. Nachdem
ich in mich gegangen war und mit
anderen darüber gesprochen hatte,
konnte ich mir diesen Wunsch eingestehen
– und mir dessen Verwirklichung zugestehen.
Aber ganz ähnlich geht es vielen Menschen
während der Corona-Krise. Vielleicht
auch Dir. Unsere Wünsche, unsere
Träume, unsere Sehnsüchte haben nicht
im März aufgehört zu existieren. Die gehen
weiter, bis heute. Das sind die unterschiedlichsten
Bedürfnisse. Lass Dir jedes
davon einmal auf der Zunge zergehen,
halte kurz inne und wende es auf
Dich an. Hast Du dieses Bedürfnis auch?
Der Wunsch nach Ruhe. Der Wunsch
nach einem Wiedersehen. Der Wunsch
nach finanzieller Sicherheit. Der Wunsch
nach sozialer Sicherheit. Das Bedürfnis,
Gesellschaft unbeschwert zu genießen.
Der Wunsch, sich frei zu bewegen. Das
Bedürfnis, frei zu atmen. Der Wunsch,
ungehindert zu sprechen. Das Verlangen,
gesehen zu werden. Das schmerzliche
Verlangen, Zusammenhalt zu erleben.
Selbst in der eigenen Familie.
Zu Anfang der Krise noch hieß es, die
Menschen wüchsen zusammen. Doch
nach Monaten des Ausnahmezustands
tritt das Gegenteil ein. Tiefer gespalten
war die Gesellschaft seit Jahrzehnten
nicht mehr. Die Maßnahmen reißen Gräben
bis ins Familienleben, von Freund-
und Liebschaften ganz zu schweigen. Sie
reglementieren unser Zusammenkommen.
Sie bestimmen, wie es auszusehen
hat. Sie verbieten es womöglich. In jedem
Fall bestimmen sie, worüber wir sprechen.
Und das mediale Klima beeinflusst,
Während der Corona-Krise geht es mir schlecht. Zum ersten Mal seit vielen
Jahren bin ich dauerhaft gestresst, unter Druck. Meine weltpolitischen Sorgen
sind größer als zuvor, konkreter. Die Lust auf sozialen Kontakt habe ich verloren.
Stattdessen flüchte ich mich in Materielles – doch da ich kürzlich umgezogen
bin, ist jedes dieser Bedürfnisse eine Rechenübung. Was mir eigentlich fehlt,
sind menschliche Begegnungen, doch die Personen auf der Straße und in den Geschäften
sind abweisend geworden, ihre Gesichter unkenntlich. Kommt Dir das bekannt
vor? Ich möchte Dich einladen auf eine Reise durch meine Gefühlswelt der
letzten Monate – denn ich glaube, dass Du Dich in ihr wiederfinden wirst. Erkennen
wir unsere Sorgen gemeinsam an. Teilen wir sie. Und dann überwinden wir
sie gemeinsam.
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