hierbei auf einer theoretischen Ebene
Baudrillard folgen, dass dadurch Krankheit
und Tod „neutralisiert“ werden.
Wenn wir dennoch von den obersten
Staatsvertretern in Deutschland und Österreich
mit dem Tod in Gestalt des Virus
bedroht werden, lohnt sich ein Blick in
die Vergangenheit zu einer weitaus tödlicheren
Krankheit und der darauf folgenden
Reaktion in unseren Breitengraden.
Die im Gefolge der Corona-Berichterstattung
oft beschworene Spanische Grippe,
an der Millionen weltweit verstarben, traf
1918/19 auf eine Welt des Aufruhrs und
der revolutionären Umwälzung. Wie der
Berliner Journalist Peter Nowak berichtet(
16), standen damals Massenaktionen
in diversen europäischen Ländern auf
der Tagesordnung, kurzlebige Räterepubliken
verkündeten den Beginn einer neuen
Ordnung — es war weder der Ort noch
die Zeit für Social Distancing.
Obwohl die Bolschewiki um die überaus
tödlichen Auswirkungen der Pandemie
wussten, sucht man in den Aufzeichnungen
der Revolutionäre vergeblich
nach einer vergleichbaren Auseinandersetzung
damit. Sogar einer der wichtigsten
Anführer der Oktoberrevolution in
Petrograd und Mitbegründer der Verfassung
des ersten sozialistischen Staats
der Welt, Jakow Swerdlow, starb im März
1919 an der Spanischen Grippe. In Lenins
Schriften findet sich dennoch diese
Krankheit einzig an einer Stelle, als Metapher
für die erwachende Arbeiterklasse
im Europa des Jahres 1918(17).
Am Rande bemerkt: Als die russische Revolution
den Sieg davontrug, wurde ein
beispielloses allgemeines Gesundheitssystem
in der Sowjetunion geschaffen.
Im Jahr 2020 ereignete sich nun eine —
vergleichsweise mildere — Pandemie in
einer politisch völlig anders verfassten
Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der
sich, wie Nowak ausführt, „mehr Menschen
ein Ende der Menschen als ein
Ende des Kapitalismus vorstellen“ können.
Und in einer, in der der Ausnahmezustand
des Staates, anders als vor 100
Jahren, nicht als Angriff auf die eigenen
Bedürfnisse gewertet wird, weil die eigenen
Bedürfnisse und jene der herrschenden
Ordnung häufig nicht mehr als Gegensatz
erscheinen. Es ist zu befürchten,
sollte es mit der Sorge um die (unmittelbare)
Endlichkeit vorbei seien, wird die
alternativlose Unendlichkeit des Kapitalismus
auf breiter Basis fortbestehen.
DEN TOD EINBEZIEHEN
„Man müßte uns (…) mit einem zum Tode
Verurteilten vergleichen, der sich tapfer
auf die Hinrichtung vorbereitet, alle
Sorgfalt darauf verwendet, auf dem Schafott
eine gute Figur zu machen, und unterdessen
von einer Grippeepidemie dahingerafft
wird. Das hat die christliche Weisheit
begriffen, die empfiehlt, sich auf den Tod
vorzubereiten, als ob er jederzeit eintreten
könnte. (…) Leider sind das Ratschläge, die
leichter zu erteilen als zu befolgen sind“(18).
Es ist tatsächlich ein hoher Anspruch, jeden
Tag so zu leben, als wäre er der letzte
— wenn diese Vorstellung damit verbunden
wird, sein Leben in christlicher
Interpretation als Selbsthingabe zu wählen
oder in den Worten des hingerichteten
Münchner Räterevolutionärs von 1919,
Eugen Leviné, sich als „Toter auf Urlaub“
der Vorbereitung des Aufstands zu widmen.
Jedoch bietet eine Einsicht in diese
Lebensweise einen vernünftigen Ausweg
aus der Gesellschaft des Spektakels.
Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer
Betrachtungen zurück, so ist die kapitalistische
Herrschaft keine, die den Tod
zu verhindern sucht und ihre Angstmache
und verfügten Maßnahmen, wie immer
man ihre Hintergründe interpretieren
mag, kein Weg, den die ihr unterworfenen
Staatsbürger mit ihr gehen sollten.
Es ist noch immer gültig, was Jean Ziegler
in den 1970er-Jahren angesichts eines
mörderischen Systems formulierte:
Einer der Schritte zur Befreiung von der
Zweckmäßigkeit der Industriegesellschaft
besteht auch darin, den Tod zurückzuerobern
und in unser Leben einzubeziehen.
Dann kann er auch keine Drohung mehr
sein, mit der man uns gefügig macht.
Stefan Kraft
Stefan Kraft, Jahrgang 1975, ist
Verleger und Publizist in Wien.
Von ihm erschien im Promedia
Verlag „Rosa Luxemburg“ (2005,
gemeinsam mit Fritz Keller)
und „Der junge Marx“ (2007,
gemeinsam mit Karl Reitter).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin, 2011, Seite 342. • (2) Terry Eagleton, Opfer; Wien, 2020, Seite 58. • (3) Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin, 2011,
Seite 342. • (4) Vergleiche hierzu und zu einigen der folgenden Ausführungen: Matthias Becker, Mythos Vorbeugung; Wien, 2014. • (5) Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin; Reinbek bei Hamburg, 1987, Seite
228 • (6) Karl Marx, Das Kapital. Erster Band; Berlin, 1962, Seite 512. • (7) https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-die-medizin-wird-kultisch-ld.1556175?reduced=true • (8) Matthias Becker, Mythos
Vorbeugung; Wien, 2014, Seite 68. • (9) https://www.swr.de/swr1/bw/swr1leute/av-o1134120-100.html • (10) Jean Ziegler, Die Lebenden und der Tod, Salzburg, 2011, Seite 28. • (11) Wir lassen
hier den Einwand (unter anderem von Jean-Paul Sartre) beiseite, der Tod wäre von der Endlichkeit zu unterschieden. • (12) Terry Eagleton, Opfer, Wien, 2020, Seite 87. • (13) Karl Marx und Friedrich Engels,
Werke. Ergänzungsband: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1884, Berlin, 1967, Seite 517. • (14) Ziegler, Die Lebenden und der Tod; Seite 28. • (15) Aus einem Interview mit einem Assistenzarzt für Pneumologie
und Infektiologie, Der Freitag, Ausgabe 14/20. • (16) https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/statt-social-distancing-gab-es-revolution, siehe auch seinen Beitrag in diesem Buch. • (17) „ … mit
jedem Schritt wird diese Kraft immer stärker in Erscheinung treten und schrecklicher selbst als die spanische Grippe werden.“, Rede am 22. Oktober 1918. • (18) Jean-Paul Sartre, Gesammelte Werke. Philosophische
Schriften I. Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg, 1994, Seite 917 bis 918.
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