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BEUGEN UND VORBEUGEN
„An dem vielleicht folgenreichsten Punkt
in unserem Leben sind wir völlig passiv.
Dies ist ein Grund, warum der Tod für moderne
Gesellschaftsordnungen einen größeren
Skandal darstellt als für vormoderne,
da sie es eher gewohnt sind, Meister
ihres eigenen Schicksals zu sein. Es gibt
andere Gesellschaften, für die der Tod eine
Machtlosigkeit besiegelt, die sich im
Alltag manifestiert, und er daher etwas
von der Wahrheit der täglichen Existenz
anzeigt. Im Allgemeinen gibt es für die
Armen mehr Kontinuität zwischen Leben
und Tod als für die Wohlhabenden“(2).
Für den französischen Theoretiker Jean
Baudrillard, der im Aufdecken des Todes
ein revolutionäres Moment erkannte, will
die moderne kapitalistische Gesellschaft
des „Spektakels“ und des „entpolitisierten
und entideologisierten Rausches“
„unsterblich“ sein und für alle Zeiten teilhaben
„am unendlichen Überschwang
der Zweckmäßigkeit“(3). Dazu gesellte
sich eine Entwicklung in der Medizinwissenschaft,
die beflügelt von den Erfolgen
der Erforschung von krankheitsmachenden
Bakterien im 19. und in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts darauf aus
war, dem gewöhnlichen Tod den Garaus
zu machen. Die Bezeichnung für diese
Epoche könnte unter umgekehrten Vorzeichen
auch in das Jahr 2020 passen:
Als „epidemiologischer Übergang“ sind
die damaligen Umwälzungen in der medizinischen
Behandlung in die Geschichte
eingegangen(4).
Gemeint ist damit eine Identifizierung einer
Reihe von Erregern und einer Erfindung
von Wirkstoffen gegen sie, die zu
einer deutlichen Abnahme von tödlichen
Krankheitsverläufen führte. Einher ging
damit aber auch eine folgenschwere Entwicklung
in den Wissenschaften: Nicht
die Erforschung des krankheitsmachenden
Umfelds stand fortan im Blickfeld
der ÄrztInnen und ForscherInnen, sondern
die Untersuchung des Keims unter
dem Mikroskop. Und wenn in unseren Tagen
Metaphern vom Krieg gegen das Virus
so leicht aus den Mündern der Politiker
fallen, so sprach Robert Koch bereits
1892 vom „glorreichen Vernichtungskrieg
gegen das gesamte Microgesindel“.
Gewinnen wollten er und seine Nachfolger
diesen Waffengang mit einer immer
stärkeren Medikation.
Der Tod durch Krankheit sollte sich,
ebenso wie im Jahr 2020, durch den
technologischen Fortschritt lösen. Dazu
schrieb der Kulturtheoretiker Ivan Illich
1975:
„Unsere neue Vorstellung vom Tod verträgt
sich auch mit dem industriellen Ethos. Ein
guter Tod ist nun einzig der Tod des Normalverbrauchers
an medizinischer Fürsorge.
(…) Genau wie der Zwangskonsum von
Erziehung den Menschen schließlich die
Sorge um Arbeit abnahm, so hilft der Konsum
von Medizin ihnen, ungesunde Arbeitsbedingungen,
verschmutzte Städte
und nervenaufreibenden Verkehr zu ertragen.
Wozu sorgt man sich um eine mörderische
Umwelt, wenn doch die Ärzte industriell
gerüstet sind, um als Lebensretter
aufzutreten?“(5).
Das Leben ist aber, wie schon John Maynard
Keynes wusste, ebenso wenig auf
lange Sicht zu retten, wie auch eine kurzsichtige
Lebensrettung keine Abhilfe
schafft für das vielfach vorzeitige Sterben
auf unserem Planeten. Nicht nur die
wirtschaftlichen Krisen, wie jene größte
seit dem Zweiten Weltkrieg, die durch
den Lockdown in Gang gebracht wurde,
sind „Fragen von Leben und Tod“. Es ist
diesem ökonomischen System eingeschrieben,
„die Ungeheuerlichkeit einer
elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis
des Kapitals in Reserve gehaltenen,
disponiblen Arbeiterbevölkerung“(
6) aufrechtzuerhalten, die an den
Folgen dieser Lebensbedingungen zugrunde
geht.
Die staatlichen Maßnahmen in der Corona
Zeit zeigen den immensen Widerspruch
in der Bewertung von Gefahren
für Leib und Leben auf, und offenbaren
ein rein funktionales Interesse am Tod.
So können im selben Land, China, Menschen
wochenlang in ihren ohnehin elendigen
Quartieren eingesperrt werden, um
ihre Körper von Infektionen freizuhalten,
während selbige Körper in den chinesischen
iphone-Fabriken von Foxconn lediglich
mit Fangnetzen geschützt werden,
sollten sich ihre Träger anlässlich
der unwürdigen Arbeit vom Dach stürzen.
Die tote Arbeit beherrscht die lebende
als Kapital, und dass es die lebendigen
ArbeiterInnen einsperrt, ist nur eine
Fortsetzung dieser Herrschaft, die vorgibt,
dem Tod auszuweichen, während
sie ihn in das Geschäft einrechnet.
Zurück zur Ersten Welt, in der zum Zeitpunkt
der Niederschrift dieses Textes
noch immer, vorgeblich zum Schutz des
Lebens, ganze Bevölkerungen von der
Teilnahme an vielen Bereichen des öffentlichen
Lebens ausgeschlossen sind.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben
kritisiert an diesem Zustand, dass
die „gesamte Existenz zu einer Gesundheitspflicht“
verkommen sei.
„(Z)umindest einstweilen haben sich die
Leute damit abgefunden, als sei es selbstverständlich,
auf Bewegungsfreiheit, Arbeit,
Freundschaften, geliebte Menschen,
soziale Beziehungen, religiöse und politische
Überzeugungen zu verzichten“(7).
Er irrt sich aber in seiner Einschätzung,
dass es Ärzten nicht in den Sinn gekommen
wäre, auch andere gesundheitliche
Empfehlungen als Rechtsnorm zu empfehlen
— angesichts der häufigsten Todesursache
in Italien, der Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, wäre dies eine gesetzlich
verankerte „gesündere Lebensweise“.
Weil in der westlichen Hemisphäre die
meisten Menschen eben nicht an Infektionen
sterben, sondern an multikausalen
Krankheiten, wurde die individuelle
Vorbeugung vor dem Tod ebenso zur
Norm erhoben wie die individuellen Verhaltensregeln
vor dem möglichen Corona
Tod. „Wenn Mediziner ‚multikausal‘
sagen, meinen sie in der Regel: ‚Keine
Ahnung!‘“(8).
Woran man stirbt, ist aber bei weitem
nicht so aufschlussreich, wie wann und
wie man bis dahin gelebt hat. Der vor
und in Corona-Zeiten von der Öffentlichkeit
weitgehend unbeachtete Sektor der
Public-Health-Forschung hat auf dem
Feld der Lebenserwartung, der Sterberisiken
und der allgemeinen gesundheitlichen
Verfassung der Bevölkerung wesentliche
Erkenntnisse zutage gefördert,
die der technokratischen Medizin abgehen.
Selten schaffen es so prominente
Beispiele in die Medien wie eine Studie
aus dem Jahr 2003, die festhielt, dass
die durchschnittliche Lebenserwartung
in Russland im Vergleich zur Sowjetunion
in den 1980er-Jahren zum damaligen
Zeitpunkt um 8 Jahre gesunken war. Die
Einführung des Kapitalismus führte zum
frühzeitigen Tod, durch Armut, sozialen
Stress und weggebrochener Gesundheitsversorgung.
Aber es gibt noch lebensnahere Aussagen
für Menschen in der westlichen Welt,
so etwa jene, dass zwischen dem ärms