gangen. Ziemlich schwer atmend verlasse
ich den Markt. Wie gut, dass meine Stadt
kein Hotspot mehr ist, obwohl ich aktuell
aus einem Situationsbericht des RKI im
TV gelernt habe: Das wahre Problem sei
nicht der Hotspot, sondern dass niemand
wisse, woher die Infektionen außerhalb
des jeweiligen gefährdeten Gebietes kämen.
Was genau sagt mir das? Nichts, außer
der Tatsache, dass einmal mehr niemand
etwas weiß.
Menschen stecken sich also so gut wie
überall an, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen,
religiösen Veranstaltungen, Feiern,
Gemeinschaftseinrichtungen. Als
provinzialer Musiker, unglücklicherweise
kein systemrelevanter, habe ich sofort
meine Band und unsere Proben im Kopf.
Klar, bevor sie losgingen, hatte jeder eine
eigene Meinung. Wir einigten uns auf eine,
allerdings ohne je so meinungsverunsichert
zu sein wie in diesen Tagen. Nach
dreißig gemeinschaftlichen Jahren sind
wir immer noch jung, und doch alt genug,
um zur Risikogruppe zu gehören. Welche
Risikogruppe? Kinder, Jugendliche, Greise?
Wir schützen uns jedenfalls mit erheblichem
und kostspieligem Aufwand
einerseits respektvoll erst einmal gegenseitig.
Andererseits, um keinesfalls Opfer
irgendwelcher Missgunst zu werden. Man
könnte uns anschwärzen. Das würde eine
nicht unbeträchtliche Summe als Strafe
zur Folge haben. Kann es wirklich passieren,
dass man so schnell vom Gönner
zum Neider wird, nur durch dieses unselige
Szenario? Wir wissen es nicht, so wie
wir im Grunde alle gar nichts wissen.
Kurz bevor die Kollegen erscheinen,
schlurfe ich gedankenverloren über die
ausgelegten Teppiche, die wir sonst nur
für große Bühnen nutzen. Wehmütig an
vergangene Konzerte denkend, die unzähligen
Menschen und uns einst so viel
Freude bereiteten und reflektiere betreten
die Stille, die über uns alle verhängt
wurde. Frustrierendes Warten, endlich
mal wieder auf die Bretter vor ein volles
Haus treten zu dürfen. Den Kneipengängern
oder Besuchern von Restaurants, ich
zähle hin und wieder dazu, fehlt die Atmosphäre,
das gewohnte Ambiente, um mal
wieder richtig rauslassen, oder genießen
zu können. Ich höre empörte Stimmen
quäken:“ Was willst du eigentlich? Hauptsache
ist doch, es schmeckt und der Service
stimmt.“ Wenn es nur um den Geschmack
geht, dann kann ich meinen
Wein zum Zigeunerschnitzel (ups, darf
man ja nicht mehr sagen, also gut, Schnitzel
mit feuriger Soße) im Diy – Verfahren
auch zuhause vor der Glotze verzehren.
Wie läuft das denn nun beim Maskenball
im kulinarischen Etablissement? Maske
auf und rein, dann setzen, und wieder
absetzen. Versprühe ich lachend und redend
im Sitzen weniger Aerosole als beim
Herantreten oder Verlassen des Tisches?
Niemand weiß es. Jetzt ist es aber erst
einmal eine Anordnung von ganz oben,
um Ansteckungsgefahr zu minimieren,
wie auch der Zettel mit Namen, Adresse
oder Telefonnummer ausgefüllt werden
muss. Was wir sonst nur widerwillig
preisgeben, tun sollen aber nicht müssen,
wenn unser Smartphone danach verlangt,
ist immerhin online und weltweit. Jetzt
handelt es sich lediglich um einen regionalen
Eingriff in unser Leben? Niemand
wird wohl seine ganz weit hinten im Kopf
entstandene Idee des Missbrauchs umsetzen.
Zurückverfolgend nachvollziehbar.
Noch nicht. Mehr geht nicht, oder? Doch!
Feste feiern geht nicht, tanzen habe ich
sowieso nie gemocht, aber mit mir selbst
zu reden ist für mich nicht neu, das konnte
ich schon immer. Dafür benötige ich
keinen Mundschutz. Ergo bleibe ich lieber
in meinen vier Wänden, amüsiere
mich allein vor dem Bildschirm mit den
Nachrichten. Es gibt ganz bestimmt wieder
etwas „Neues“ zu sehen. Ich höre
gern das, was man mir aus sogenanntem
berufenem Mund über die Hilfe für Solo-
Selbständige erzählt. Mein Lieblingsthema.
Es betrifft mich. Natürlich ärgere ich
mich dann immer noch ein bisschen, dass
ich damals nicht dem Rat meiner Mutter
gefolgt bin, und die Karriere eines selbstständigen
Beamten eingeschlagen habe.
Verwirrung gibts bei mir deshalb aber
nicht. Meinem Arzt vertraue ich ja auch
immer wieder. Gut so.
Einigkeit und Recht und Freiheit? Wo ist
die Einigkeit diverser Bundesländer, wenn
es um gemeinsame Regelungen geht, um
wenigstens dem größten Teil des elenden
Durcheinanders ein Ende zu setzen? Wo
bleiben Recht und Toleranz, dass man seine
Meinung über falsche Einschätzungen
öffentlich diskutieren darf, ohne gleich
als Meinungsmacher oder Verschwörungstheoretiker
abgestempelt zu werden?
Wo bleibt also die so häufig gepriesene
Freiheit? Da sind unsere Nachbarn
ganz anders. Sie fühlen sich frei, an Probetagen
ihre Fenster zu öffnen, um uns
kostenlos zuzuhören. Eine denkbare Hilfe
für an Ungereimtheiten Erkrankter? Nein,
ganz sicher nicht, aber Futter für die Seele
und Wärme aus der Distanz. Es ist nämlich
kalt geworden in unserem Land. Mag
sein, dass es, wie in jedem Jahr, nur an
der Zeit liegt. Schließlich wiederholt sich
nicht nur alles, wir gewöhnen uns auch an
alles solange wir noch unter den Lebenden
sind. gbm | 11.10.20
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