ICH
ERINNERE
MICH
NICHT
MEHR …
… jemals solch eine Zeit
mitgemacht zu haben
Die mittelalte Frau steht im Supermarkt
am Käseregal direkt hinter
mir, fast auf Tuchfühlung. Früher
fand ich das spannend. Heute fühle
ich mich beobachtet, drehe mich
um und frage ganz vorsichtig: „Hallo?
Gehts noch? Erinnern Sie sich
bitte mit mir, mindestens 1,5m Abstand
sind vorgeschrieben?“ „Herrgott
nochmal,“, giftet sie, „Sie stehen
hier jetzt schon seit Stunden.“
Zugegeben, zwei lange Masken-Minuten
sind es ganz sicher, weil dieser
Markt nicht besonders gut sortiert
ist. Meine preiswerte Lesebrille
verlangt eben nur nach dem
richtigen Abstand zwischen Auge
und Objekt. Zudem checke ich
gern das Ablaufdatum, wenngleich
das bei Camembert eigentlich für
mich keine große Rolle spielt. Solange
ich den Käse nämlich noch
riechen kann, bin ich nicht infiziert.
Niesen und husten muss ich
ja schon, wenn ich morgens um 10
Uhr barfuß in Sandalen auf dem
Balkon meine erste Zigarette inhaliere.
Okay, keine Reibereien, ganz
besonders in diesen distanzierten
Zeiten nicht, in denen verbale
Freundlichkeiten im Handumdrehen
in Feindseligkeit umschlägt,
ohne wirklich zu wissen warum.
Der Versuch, mich schnell eine
Abteilung weiterzuschieben misslingt,
da zwei Herren den Weg mit
ihren Einkaufsfahrzeugen versperren.
Weshalb das gestikulierende
Palaver über aktuell 4.000 Neuinfektionen,
die 2. Welle und einen
wahrscheinlich bevorstehenden erneuten
Lockdown genau hier stattfinden
muss leuchtet mir ein. Zuhause
hat man von dem Thema die
Maske gestrichen voll. Diese zwei
Wagen nebeneinander ergeben allerdings
den geforderten Abstand,
also alles bestens. Ich komme
zwar nicht durch, der enge Gang
lässt das nicht zu, respektiere aber
schweigend die Erforderlichkeit ihrer
Diskussion. Ich werde niemanden
manipulieren.
Über Umwege endlich an der Kasse,
ziehe ich meine Bankkarte. Man
sieht es gern, wenn ich nicht bar
zahle. Es funktioniert nicht. Karte
raus, wieder rein, neu eingeben.
Wieder nichts. „Haben Sie Bargeld
dabei?“, fragt mich die unmaskierte,
aber freundliche Kassiererin
durch ihre riesige Plastikwand. Ich
verneine, werde verlegen, weil ich
mich plötzlich in der Situation sehe,
meinen Einkauf zurücklassen,
zur Bank fahren zu müssen, um
mich mit einem funktionierenden
Zahlungsmittel zu versorgen. Derweil
hat sich die Schlange an der
Kasse hinter mir verdreifacht. Ich
spüre zunehmend genervtes Hufscharren
mit dem bitteren Klang
unterdrückter Aggression. Dann
das Signal. Zitternd gibt mein Finger
den Code ein. „Bitte bestätigen!“
Puuh, gerade nochmal gutge-
DANKE GEORGE!
Ein Menschenfreund, eine große Seele,
ein starkes Herz am richtigen Fleck.
Und eine feste Größe als Kolumnist in
unserem Magazin. Mit eigenem Stil
und Sichtweisen, immer nah, immer
freundlich, sogar in der Verärgerung.
Dies ist kein Nachruf. Es ist ein
Zwischenruf, falls wir eine Weile nicht
gedruckt erscheinen. Danke George – es
ist uns eine Ehre.
Weitaus nicht alle – aber die letzten
zehn Kolumnen von GBM gibt hier:
laufpass.com/thema/kultur/
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